Die real existierende Ideologie

 

Das ideologische Konzept – die Trias von simpler Weltdeutung, Paradiesversprechen und restriktiver Moral – funktioniert mehr schlecht als recht. Von den wenigen »Charismatikern« abgesehen, welche die reine Lehre durchhalten, kämpft die real existierende Ideologie immer mit dem Scheitern.

Meist pervertiert schon die als Institution eingesetzte oder selbsternannte Elite die Idee. Jenseitsapostel richten sich pompös im Diesseits ein, aus Verkündern der Bergpredigt werden Kirchenfürsten im feudalen Gewande. Volksbefreier entpuppen sich als Diktatoren, Genossen wandeln sich in Funktionäre. Und Volksvertreter genießen Luxus und Privilegien politischer Prominenz.

Das wäre skandalös, hätte nicht die Schar der Gläubigen heimliches Verständnis für die Sünden ihrer Elite. Denn Masse selbst ist nicht begabt für utopische Ziele und Moral. Masse ist »Mitte mit Schlagseite«; mal neigt sie sich auf diese, mal auf jene Seite. Masse ist auf eine gesunde Weise mittelmäßig, abhold jeglichem Extremismus. Nur in Zeiten der Krise läßt sie sich ideologisch aufheizen. Dann allerdings ist die Katastrophe vorprogrammiert.

Elite pervertiert skrupellos und zynisch die gepredigte Moral, Masse sündigt heimlich und im kleinen Stil. Man könnte die Sünde, traditionell als menschliche Schwäche gedeutet, aus einer realistischen Sicht der Dinge auch als Zeichen der Stärke werten, als Sieg der Natur über unsinnige Restriktionen, geschähe sie nicht bei der Elite mit arroganter Selbstgerechtigkeit und bei der Masse mit kleinmütig schlechtem Gewissen.

Dieses glauben, jenes tun – das ist die Schizophrenie jeder Ideologie. Doppelmoral ist denn auch ihr Markenzeichen. Auf dem Schwarzmarkt der Heimlichkeiten wird gehandelt, was theoretisch nicht sein darf.

Doktrinäre, ewig gestrige Ideologen bekämpfen die Doppelmoral. Aufgeklärte wie die Marktstrategen erlauben eine bestimmte Art von Doppelleben; sie haben es gewissermaßen in ihr Erfolgskonzept integriert. Tagsüber eingeforderte, auf Leistung und Funktionieren ausgerichtete puritanische Moral wechselt mit ritueller Unmoral nach Feierabend – nicht wirklich praktiziert, versteht sich, sondern voyeuristisch in der Phantasie als Fernsehkonsument. Die moralische Enge der alltäglichen Wirklichkeit wird kompensiert durch imaginäre Freizügigkeit. Ideologische Unerbittlichkeit wird mit Scheinliberalität kaschiert.

Die Kunst spielt fleißig mit in diesem Spiel. Trug sie ehemals in den Blütezeiten dogmatischer Ideologien noch zur moralischen Aufrüstung der Gläubigen bei, als Illustrator und Wegweiser des Heilsmythos, so dient sie heute eher der moralischen Entlastung. Sie befriedigt latente, der Zensur zum Opfer gefallene Wünsche, füllt Defizite auf und entwirft ein buntes Bild von Welt, das den Konsumenten über die Monotonie des Alltags hinwegrettet.

Kritik kann sich Kunst kaum mehr leisten, da sie selbst längst Teil des Systems, des Marktes, geworden ist. Wer sägt schon an dem Ast, auf dem er sitzt? Und wer kann es sich erlauben, seinen Brötchengeber bloßzustellen?

Der Markt hat einen großen Magen! Was keine Ideologie zuvor geschafft hat – die unterdrückte Antiwelt positiv ins Konzept zu integrieren –, der modernen Marktideologie scheint es zu gelingen. Indem sie das Verbotene in sublimer Form als konsumierbares Produkt anbietet, verhindert sie, daß es tatsächlich geschieht. Und, der moralisch stabilisierende Sublimationsprozeß fördert gleichzeitig das Geschäft, belebt die Konjunktur. Ein weiterer Beweis für Genialität und universalen Anspruch des Marktes, der keinen Aspekt des Seins ausklammert und sich als wahrhaft würdige Nachfolgeideologie der Religion präsentiert.

Nicht ohne Grund befanden sich seit jeher Kirche und Marktplatz im Zentrum der menschlichen Ansiedlungen. Die Kirchen haben sich offensichtlich als überflüssig erwiesen und können ihre Pforten schließen. Der Markt dagegen, so scheint es, ist zum letzten und allgewaltigen Sinnbezug der Wirklichkeit avanciert.

 

Ideologen und Messiasse projizieren ihre Erlösungsvisionen – Happy-End und Paradies – gewöhnlich in die Zukunft. In der Gegenwart, das wissen sie, hat ihre Utopie keine Aussicht auf Erfolg. Denn Gegenwart ist Wirklichkeit, und Wirklichkeit ist antiutopisch, verhöhnt ideologisches Wunschdenken.

Wäre Ideologie nur der vage Traum vom Paradies, euphorisierend und narkotisierend zugleich, sie wäre harmlos. Doch anders als das in seinen Träumen von Glück und Größe verfangene Kind beläßt es der Ideologe gewöhnlich nicht bei Wonnegefühlen im Blick auf eine paradiesische Zukunft. Er versucht, der Gegenwart seinen Stempel aufzudrücken, ihr seine Vorstellung von der Welt aufzuzwingen. Scheitert er an den Gegenkräften, am inneren Widerstand einer utopisch unbegabten Masse, an deren natürlichen Gleichgültigkeit gegenüber »Idealen«, so ist das genau betrachtet ein Glücksfall für die Menschen. Wenn eine Ideologie verwässert wird oder im Sande verläuft, ist das die sympathischste Form ihres Scheiterns. Sanft ausgestorben kann sie keinen Schaden mehr anrichten.

Weitaus verheerender wirkt sich das »Scheitern am Erfolg« aus. Wo Ideologie erfolgreich ist, zerstört sie gnadenlos, mal auf spektakuläre, mal auf sublim verdeckte Weise.

Denn monistische Utopie, sprich Ideologie, ist charakterisiert durch den zerstörerischen Umgang mit dem anderen, dem Gegenpol, den sie nicht akzeptieren kann. Ob der Gegenspieler die andere Klasse, Rasse, Nation, Ideologie oder die Natur ist, ob es unbewußte, der verkündeten Moral widersprechende Triebkräfte sind oder die den glorifizierten Werten entgegengesetzten »Antiwerte« – Muße gegenüber Leistung, Spontaneität gegenüber Programmierung, Bescheidenheit gegenüber Anspruchsdenken –: das andere ist der Feind, den es zu unterdrücken und auszurotten gilt.

Doch das bedrohte andere wehrt sich, das zerstörte andere rächt sich. Die Siege der Ideologie sind Pyrrhussiege. Nicht ohne Grund gingen die meisten Kulturen an ihrer verabsolutierten, d.h. ad absurdum geführten Leitidee zugrunde, vornehmlich an der Idee der Macht. Individueller, auf »national« getrimmter Größenwahn – von Alexander dem Großen über Napoleon bis Hitler – mußte ebenso in die Katastrophe führen, wie es der systemideologisch begründete Hegemonialanspruch der derzeit führenden Supermächte im Falle seiner militärischen Verwirklichung tun würde.

Weniger eklatant, eher schleichend, stellt sich das Scheitern dar, das die ökonomische Ideologie, der anthropozentrische Umgang der Kultur mit der Natur als »Gegenspielerin« produziert – vergleichbar dem egozentrischen Umgang des utopisch verklärten autonomen Ichs mit dem Mitmenschen. Ökologische und soziale Katastrophen gedeihen auf dem gleichen Nährboden, verlaufen nach dem gleichen Muster. Irgendwann wirkt die Unterdrückung oder Zerstörung des »anderen« auf ihren Verursacher zurück und macht die anfänglichen – vordergründigen – Erfolge zunichte.

Nicht zu vergessen die Opfer, die der Gläubige im ideologischen Umgang mit sich selbst bringt, indem er das eine auf Kosten des anderen extrem favorisiert. Physischer Verschleiß, neurotische Deformation, psychosomatische Symptome bis hin zum allseits gefürchteten Krebs: das ist der Preis, der nur zu gern unter dem Begriff »Zivilisationskrankheiten« als anscheinend unvermeidlich dargestellt und mit entsprechend fatalistischem Gleichmut hingenommen wird.

Krebs ist eine Krankheit mit geradezu symbolischer Aussagekraft. Er versinnbildlicht auf drastische Weise Mechanik und Scheitern des monistischen Prinzips. Die monistisch- undifferenzierte, hemmungslos wuchernde, gleichsam sich selbst verabsolutierende Krebszelle besiegt zunächst die anderen Zellen. Sie zerstört die komplexe Vielfalt, die Balance des polaren Kräftespiels. Doch ihr »Erfolg« wird ihr schließlich zum Verhängnis. Zwangsläufig muß sie mit dem von ihr zerstörten Organismus zugrunde gehen.

Ideologien sind kanzerogen – physisch, psychisch, geistig. Sie sind die Schadstoffe und Viren, die ein menschliches Bewußtsein produziert, das aufgrund eines eingeprägten infantil-monistischen Denkmusters das Gespür für die Polarität – Rhythmik, Antagonismus und Komplementarität – des Seins verloren hat.

Man könnte den Krebs als das Wahrzeichen des Absoluten bzw. der Ideologie – gleichgültig, ob es sich um eine religiöse, politische oder ökonomische handelt – bezeichnen. Seine permanente Zunahme in unseren Tagen spricht nicht gerade für einen ideologiefreien Umgang unserer Zeit mit der Wirklichkeit. Im Gegenteil. Es sieht so aus, als würde das monistische Bewußtsein unter der Fahne der Marktideologie seine letzte verheerende Schlacht schlagen.

Diese Moderne wähnt sich erhaben über die ideologischen Verirrungen der Vergangenheit. Glaubenskriege, Inquisition und Hexenprozesse gehören, so glauben wir, dem finsteren Mittelalter an. Imperialismus, Kolonialismus, Weltkriege aus nationalem Größenwahn; Rassendiskriminierung, Klassenhaß, ideologische Exzesse jedweder Art erscheinen uns menschenunwürdig, wie schreckliche Alpträume aus längst vergangener Kindheit. Den latenten Glaubenskrieg der verfeindeten Politsysteme, den Imperialismus der expandierenden, auf Monopolstellung innerhalb der Weltwirtschaft zusteuernden multinationalen Konzerne und den kolonialistischen Umgang der Ersten mit der Dritten Welt nehmen wir ebenso wenig wahr wie die getarnt inquisitorische Zensur der Medien durch Politik und Wirtschaft oder die subtile Gewalt der Verführung innerhalb der Werbung, die den Konsumenten willfährig macht. Unsere »Ideologiefreiheit« – eine fromme Selbsttäuschung also?

Wir müssen uns wohl an den betrüblichen Gedanken gewöhnen, daß spätere Generationen unsere grandiose »Neuzeit« als Supplement des finsteren Mittelalters, als sublime Variante eines hoffnungslos infantilen Bewußtseins betrachten werden – wenn es diese späteren Generationen noch geben sollte.


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