Der
sublogische Zugang
Logisch rationale Argumente haben den
spröden Charme einer mathematischen Rechenoperation. Sie überzeugen bestenfalls
im Bereich der Großhirnrinde. Vorurteile oder Vorbehalte lassen sich auf diesem
Weg allein kaum ausräumen. Reizvoller und lohnender dürfte es sein, die
Gültigkeit des Kontrastprinzips in den tieferen, existentiell ansprechenderen
Schichten, sozusagen im »subzerebralen« oder »sublogischen« Bereich des
menschlichen Bewusstseins nachzuweisen. Wir hatten uns ja vorgenommen, nicht
nur mit dem Verstand zu denken.
Der
Ansatzpunkt für eine solche Beweisführung ist relativ leicht aufzuspüren. Es
gibt im Menschen ein psychisches Pendant, einen »Resonanzkörper« für die
kontrastierende Struktur und Dynamik der Wirklichkeit: die innere emotionale Ambivalenz. Unsere Gefühle und Erwartungen gegenüber der
Wirklichkeit sind erfahrungsgemäß nicht eindeutig. Oft schwanken sie zwischen
verschiedenen Möglichkeiten; sie widersprechen sich, oder sie können unvermutet
ins Gegenteil umschlagen, scheinbar spottend jeglicher rationalen Beurteilung.
So übt
merkwürdigerweise alles Negative, was gemeinhin verurteilt, verdrängt oder
tabuisiert wird, eine wenn auch nur heimliche, magische Faszination aus. Das
Fernsehprogramm als Indikator für die Bedürfnisse des Zuschauers beweist es: Da
gibt es zwar hin und wieder Heile-Welt-Sendungen, in
denen eitel Freude herrscht; doch das Schlimme, Schreckliche, Zwielichtige, das
Unmoralische bis hin zu Exzess und Perversion – faktisch in Dokumentationen,
fiktiv in Filmen – dürfte das Herz des Zuschauers mindestens ebenso erfreuen,
oder sagen wir: animierend unterhalten, wie das obligatorische Happy-End. Auf
dem Bildschirm wird allabendlich vor den Augen eines lüsternen Publikums
millionenfach gequält, gelitten, gemordet und moralisch Anrüchiges in jeglicher
Variation praktiziert. Ein Programm, das ausschließlich dem Schönen und Guten
gewidmet wäre, hätte miserable Einschaltquoten.
Was im
realen Leben gemieden oder bekämpft wird, darf in der Imagination existieren.
Mehr noch, es fasziniert; wir haben einen unstillbaren Appetit darauf. Die
Kunst ist ein einziger Tummelplatz für Verbotenes und Tabuisiertes.
Unsere
emotionale Ambivalenz als Antwort auf die Widersprüchlichkeit der Welt. Weil
wir aus dem gleichen »zwiespältigen« Stoff sind wie die Wirklichkeit, rechnen
wir auch mit dem Negativen, haben so etwas wie ein elementares Bedürfnis
danach. Und wenn es fehlt, sind wir frustriert, gelangweilt.
Das ist
das Problem des »lieben Gottes« und seiner »ewigen Glückseligkeit«. Sie
überzeugen nicht, sprechen existentiell nicht an. Sie legen die Hälfte unseres
emotionalen Kostüms lahm. Wer nicht traurig, zornig, verdrossen, verzweifelt
sein, wer weder hassen, noch verachten, noch verdammen darf, der ist, so
paradox es klingt, nicht wirklich zufrieden.
Das ist
auch das Leid der Moralisten. Der »ewig gute« Mensch wird nicht ernst genommen,
wirkt schon beinahe wie eine Karikatur. Moral ohne den Schuss Unmoral,
Normalität ohne den Hauch Perversion ist unerträglich. Umgekehrt übrigens auch.
Der absolute Bösewicht ist lächerliche Fiktion. Erst eine Spur Menschlichkeit
macht ihn – in der Kunst wie im Leben – zu einem überzeugenden Charakter.
Mit
Schwarz-Weiß-Malerei kommt man dieser Wirklichkeit nicht bei. Sie verliert
unter solcher Manipulation, auch optisch, an Plastizität: plakativ zwar, aber
flach. Erst durch die nuancenreiche Mischung der Kontrahenten Schwarz und Weiß,
durch die Grautöne, gewinnt das Bild die räumliche Dimension.
Ganz
ähnlich der fotografische Effekt des Polarisationsfilters. Polarisiertes Licht,
das nur in einer Ebene gleichsam monistisch schwingt, erhöht zwar den Kontrast des Bildes,
jedoch auf Kosten des Flairs, des Schimmernden und Glitzernden. Überdeutliche,
aber stumpfe, kalte Klarheit. Atmosphärische Stimmung entsteht aus dem leicht
Diffusen; Brillanz beruht auf der vielfachen Brechung des Lichts. Langweilig –
der »monolithische« Diamant gegenüber dem facettenreichen, funkelnden
Brillanten. Die Welt ist nicht schwarz oder
weiß, gut oder böse. Sie ist ein schillerndes, opaleszierendes
Gemisch.
Was
thematisch für ein gutes Kunstwerk gilt, gilt auch für dessen Form. Unsere
ästhetischen Bedürfnisse, von moralischen Tabus weniger tyrannisiert – es geht
ja »nur« um Formfragen –, verraten spontan die existentielle Lust an einer
kontrastierenden Wirklichkeit. Ein Film, der sich in ausschließlich schönen
Bildsequenzen ergeht, lässt den Zuschauer ungerührt und ermüdet obendrein.
Vollkommene
Ästhetik und ungetrübte Harmonie geraten in verdächtige Nähe zu Kitsch und
Idylle. Zu höchster Reinheit isolierte Schönheit wirkt auf Dauer ebenso
langweilig wie moralische Perfektion. Erst der kleine Fehler befreit »die
Schöne« und »den Guten« von der Aura kühler Unnahbarkeit. Synkopen, fein dosierte
Disharmonien runden die musikalische Komposition zum vollen Klang ab, wie die
Prise Salz die Süßspeise oder der Spritzer Bitter das Mixgetränk. Die
»Verunreinigung« bewahrt jeglichen Wert vor der Sterilität des Absoluten.
Die Gesetze der Ästhetik und das mit
ihnen korrespondierende emotionale Reaktionsmuster bestätigen auf einer vorbewussten Ebene die Logik des Kontrastprinzips: Das
Positive kann sich nur vor dem kontrastierenden Hintergrund des Negativen
profilieren und umgekehrt. Die Gefühle sind davon nicht ausgenommen. Sie
entscheiden sich niemals eindeutig und endgültig zugunsten des Positiven. Die
spontane Abneigung gegenüber dem Negativen ist keine absolute. Sie wird von
einer Gegenströmung unterspült, von der elementaren Gewissheit, dass es dieses
Negative geben muss.
Außerdem
unterstreichen die Regeln der Ästhetik weitere mit der Polarität des Seins
zusammenhängende Gesetzmäßigkeiten, die ich skizzenhaft in einer Theorie der Grenzwerte, einer Theorie der Abmischung oder kreativen
Verunreinigung und einer Theorie der
Bitterstoffe formulieren möchte – Theorien, die allesamt das monistische
Denken und dessen Utopie, das Absolute, in Frage stellen.
Zur Theorie der Grenzwerte: Werte, gleich
welcher Art, sind Grenzwerte, die – absolut
– niemals erreicht werden, höchstens »asymptotisch« oder in Ausschnitten. Das sogenannte Reine, eine bei den Jüngern der Philosophie,
Kunst, Religion, Wissenschaft und Technologie beliebte Variante des Absoluten,
ist Illusion. Es gibt keinen reinen Kristall, keinen Diamanten ohne Fehler. Die
Temperatur im Universum liegt einige Grade über dem absoluten Nullpunkt. Die
Ordnung im atomaren Bereich ist, laut Heisenberg, durch eine gewisse Unschärfe,
durch einen Hauch Chaos gestört. Es gibt keinen reinen Mann und keine reine
Frau; immer sind Hormone des jeweils anderen Geschlechts vorhanden. Und die
scheinbar reinsten Geistgebilde der Philosophen – die Ideen – sind immer mit
Materie »beschmutzt«: allein aufgrund der Tatsache, dass sie in einer
biologischen Masse, dem Gehirn, entstehen und über materielle Medien, mit
Stimmbändern oder bedrucktem Papier, weitergegeben werden. Selbst die
abstraktesten Begriffe, Zeichen oder Zahlen haben einen Rest von
Anschaulichkeit, die auf der sinnlichen Erfahrung von etwas Konkretem beruht.
Man kann
sich an diesen »Unsauberkeiten« stoßen. Man könnte sie aber auch als kreative Verunreinigungen bezeichnen,
analog den Katalysatoren, Enzymen und Spurenelementen, die gleichsam als
feinste Verunreinigungen chemische und biologische Prozesse in Gang setzen oder
beschleunigen. Wieder reicht das Spektrum der Beispiele von der Physik über die
Biologie bis hin zur Ästhetik: Geimpfte, d.h. verunreinigte Kristalle in der
Halbleitertechnik sind weitaus wirkungsvoller als reine Kristalle. Die schon
genannten Katalysatoren und Spurenelemente spielen in Chemie und Biologie eine
zentrale Rolle. Kleine Unregelmäßigkeiten, sprich Fehler, machen den Reiz der
Handarbeit gegenüber maschinell hergestellten Produkten aus. Und der berühmte
künstliche »Schönheitsfleck« bringt seit jeher weibliche Schönheit erst voll
zur Geltung.
Nicht ohne
Grund hat das Puristische – lupenreine Ästhetik, totale Ordnung und perfektes
Funktionieren – den Ruch des Sterilen. Erst wenn die Ordnung mit dem Chaos, mit
dem Zufall kokettiert, wenn das Quant unvermutet aus seiner Bahn springt, wenn
Gene und Phantasie mutieren, ist Kreativität am Werk. Aus der »Kontamination« –
der Berührung, Vermischung und Vereinigung der Gegensätze – entsteht das Neue.
Das ideologische System der sauberen Trennung funktioniert nicht.
Die gegensätzlichen Pole lassen sich niemals gänzlich auseinanderdividieren.
Einen Teilaspekt – und mag er noch so faszinieren – aus dem kontrastierenden
Umfeld herauszulösen und zu verabsolutieren, bedeutet, ihn ad absurdum zu
führen, ihn seines Sinnes zu berauben. Denn
Sinn besteht allemal aus Beziehung – gleichgültig, ob er nach dem Warum
oder dem Wozu fragt, ob er den Grund oder das Ziel als Bezugspunkt anpeilt. Das
Absolute oder Verabsolutierte aber ist, definitionsgemäß, losgelöst aus aller
Bezogenheit und damit absurd. Die »kreative Verunreinigung« stellt das Minimum
an Vermischung dar, den Hauch Beziehung, der noch über den scheinbar reinsten,
absoluten Polen liegt und sie mit ihren Gegenpolen verbindet.
Die
emotionale Ambivalenz reagiert instinktiv richtig auf absurde
Verabsolutierungstendenzen. Je näher man den Grenzwerten kommt, dem absolut
Schönen, Reinen, Guten und Wahren oder deren Widerpart, desto mehr verlieren
sie an Anziehungskraft. Die Gefühle ändern, wie eine Kurve an ihrem
Scheitelpunkt, die Richtung. Eine Gegenkraft wird wirksam. Bewunderung wandelt
sich unmerklich in Gleichgültigkeit, ja sogar heimlichen Widerwillen. Man
schaut wieder hinüber auf die andere Seite, ist vom Gegenpol fasziniert.
Dieses
Umkippen der Gefühle bei der Annäherung an »absolute« Grenzwerte in ihr
Gegenteil könnte man als Ambivalenzumschwung
bezeichnen. Eine ebenso überraschende wie angemessene Reaktion. Gewöhnlich
verhindert sie, daß beispielsweise Liebe zu
Hörigkeit, Engagement zu Fanatismus, Gelassenheit zu Fatalismus verkommt.
Die
Mechanik des Ambivalenzumschwungs bildet eine natürliche Sperre gegen jede Art
von Extremismus und Totalitarismus. Sie mobilisiert, wenn nötig, die
instinktive Abwehrhaltung gegenüber ausufernden, sich etablierenden Mon-Ismen. Auf ihr beruht der dialektische Wechsel von
Ideologie und Gegenideologie, von Trend und Gegentrend innerhalb der
Kulturgeschichte. Offensichtlich gehorcht Geschichte denselben Gesetzen, folgt
den gleichen gegenläufigen Amplituden wie die Wellen, Schwingungen und
Rhythmen, die für die gesamte physikalische, chemische und biologische
Wirklichkeit so kennzeichnend sind.
Die kreative Verunreinigung ist ein
Grenzfall des Prinzips der Abmischung,
das die unterschiedliche Mischung, die Abstufungen, Übergänge – letztlich die Beziehungen – der konträren Pole
beschreibt. Wieder entsprechen die kompositorischen Regeln eines guten
Kunstwerks den Gesetzen der Wirklichkeit. Wieder bestätigt das ästhetische
Empfinden auf einer emotionalen, existentiellen Ebene die realen
»Abmischungsverhältnisse« des Seins.
Extreme
jedweder Art dürfen nur sparsam und alternierend, als Spotlights, eingesetzt
werden. Andernfalls entstehen klebrige, überwürzte Konzentrate. Ein gutes Essen
besteht aus einer relativ neutralen Grundlage. Die Komponenten Süß, Sauer,
Salzig, Bitter, Scharf – alles Intensive –, sind nur als Akzente zu verwenden.
Extreme werden sinn- und wirkungslos, wenn man sie zum Standard macht.
Der
Standard ist statistischer Mittelwert, Durchschnitt. Der Großteil der
Wirklichkeit ist von befreiendem Mittelmaß, von angenehmer Banalität und
Bedeutungslosigkeit. Wäre das Leben so verdichtet wie ein überhitztes
Kunstwerk, es ginge über unsere Kräfte. Ewiges Glück, nie endende Wollust,
Schokoladenberge – das mag den total Ausgehungerten oder Frustrierten
faszinieren; nach der ersten Tafel Schokolade, nach dem ersten Orgasmus sieht
die Sache schon anders aus. Kunst, wenn man sie nicht als Antipoden zur
Wirklichkeit sieht, und Wirklichkeit, wenn man sie zu einem Kunstwerk
komponieren möchte, leben vom rhythmischen Wechsel, von der nuancierten
Abmischung der konträren Pole.
Es soll
hier nicht das Ideal subtiler Wohlausgewogenheit und harmonischer Balance
verkündet und die Abschaffung alles Überzogenen, Schrillen, Exzessiven
postuliert werden. Das wäre die ideologisierende Verabsolutierung der »goldenen
Mitte« – eine zwar harmlose, aber lähmende Utopie.
Die
wohlausgewogene Balance ist Ausnahmefall und immer labil. Absolutes
Gleichgewicht würde den Sieg der Statik über die Dynamik – der Zeitlosigkeit
über die Zeit – bedeuten. Das wäre das Ende von Geschichte. Geschichte
oszilliert zwischen Dynamik und Statik. Sie ist permanentes Aus-dem-Gleichgewicht-Kippen
und Sich-wieder-Einpendeln – ein Wechselspiel
temporär monistischer Tendenzen. Sinnlos, sie der
Dynamik oder Statik als »primärem« Grundprinzip unterwerfen zu wollen. Dynamik pur wäre chaotisch, Statik pur würde Stillstand bedeuten,
wäre tödlich.
Die
Pendelausschläge in eine Richtung können äußerst heftig sein und belebend;
Extreme sind die Salzkörner in der Suppe des Mittelmaßes. Nur, Extreme – das gilt auch für »Ideale« – sind Grenzwerte ohne normativen Anspruch.
Wenn Extremisten in ihrem privaten Kämmerlein sich austoben und irgendwelchen
exzentrischen Ideen oder Hobbys nachgehen, ist das ihre Sache und relativ
harmlos. Gefährlich wird es erst, wenn sie ihre einfältige und extreme Sicht
der Dinge zum System erheben und einer Masse als Erlösungsutopie predigen.
Bleibt dann nur zu hoffen, daß Masse ihrer Tugend
Mittelmaß treu bleibt und nicht aus Gründen außergewöhnlicher Bedrängnis auf
die Paradiesversprechen hereinfällt. Wenn Masse aus der ihr
angestammten Trägheit gerät und zum Kochen kommt, ist
die Katastrophe nicht weit.
Nichts
auf dieser Welt ist einfach oder eindeutig. Unsere innere emotionale Ambivalenz ist die Antwort auf diese Tatsache.
Der instinktive, vorbewusste Anteil unserer Persönlichkeit reagiert spontan
angemessen auf die polare Struktur der Wirklichkeit. Nur die dünne Schicht
unseres Bewusstseins lässt sich bisweilen auf monistisch-utopisches
Glatteis führen. Im elementaren Empfinden verhalten wir uns realistisch, d.h.
ambivalent. Dort sind wir ehrlicher als in unserem intellektuellen Überbau.
Diese
Divergenz zwischen Instinkt und Bewusstsein ist vermutlich eine Frage der
geistigen Entwicklung. Auch die Sinneswahrnehmungen – Gehör, Geruch und
Geschmack – entwickeln ja erst mit der Zeit die Ambivalenz. Der Säugling
bevorzugt zunächst das Milde, Süße, Angenehme; alles Scharfe, Salzige, Bittere,
Unangenehme lehnt er heftig ab. Sein Geschmack ist gleichsam monistisch auf das Positive geeicht. Erst im Lauf der
Entwicklung entdeckt er die scheinbar paradoxe Lust an dem ursprünglich als
negativ Empfundenen, an den Bitterstoffen. Er lernt, den vollen Geschmack – von
Leben – zu schätzen.
Ein
weiteres, interessantes Phänomen: Mit zunehmendem Alter und Reife bildet sich
eine Abneigung gegen das Süße. Das Herbe gewinnt an Reiz. Es findet eine
heimliche Umwertung der Werte statt.
Und schließlich bekommt selbst die größte Bitternis des Lebens, der Tod, ein
freundlicheres Gesicht – vorausgesetzt, das Leben wurde gelebt, d.h., angelegte
Möglichkeiten wurden verwirklicht, vitale Energie wurde sinnvoll aufgebraucht.
Das
Bittere als notwendiger und akzeptierter Bestandteil des Lebens, und daneben
die im individuellen Dasein sich vollziehende Akzentverschiebung vom »süßen«
Eros zum »bitteren« Thanatos, vom Ja des Lebens zum Nein des Todes, verstanden
als eine, große Wellenbewegung, die vorgezeichnet und überlagert ist von den
vielen kleinen Wellenbewegungen des Wach-Schlaf-Rhythmus – vergleichbar den
»Fraktalen«, den Schwingungen in der Schwingung, den Kurven in der Kurve, von
den Mathematikern mit Begeisterung erforscht und als möglicher mathematischer
Universalschlüssel zum Sein gehandelt –: diese beiden existentiell
nachvollziehbaren Aspekte negativer Wirklichkeit wären die Quintessenz einer Theorie der Bitterstoffe.
Es gibt nicht wenige Leute, die genüsslich
ihren Campari schlürfen und gleichzeitig auf den
kitschig-süßen Limonadengeschmack einer Erlösungsutopie fixiert sind: ein
schizoides Nebeneinander von Reife und Infantilität, wie es sich die Verkünder monistischer Heilslehren nur wünschen können und wie es in
der Praxis dieser Denkungsart, siehe Doppelmoral, keine Seltenheit ist.
Gelänge
es, die geistigen Geschmacksnerven zu entwickeln, d.h. die innere Ambivalenz zu
trainieren und ins Bewusstsein zu heben – nicht als mysteriöses Paradoxon eines
chaotischen Unbewussten, sondern als realitätsgerechtes Reaktionsmuster –, dann
wäre dieses Bewusstsein gefeit gegen die »ideologische Versuchung«. Es würde
auf »Erlösung« verzichten und könnte sich mit der Wirklichkeit in all ihrer
Widersprüchlichkeit anfreunden. Vielleicht sogar würde es beginnen, diese Welt
zu lieben. Und was ist Denken anderes als der Versuch, mit der Welt in Einklang
zu kommen und sie womöglich zu »lieben«?