Apologie der Kultur

 

Zwei Voraussetzungen sind für perspektivisches Denken, zumal wenn es sich auf globale Dimensionen einläßt, unverzichtbar. Zum einen muß die Evolution, auch wenn sich Prä- und Postmoderne dagegen sträuben, als »Meta-Erzählung«, als ein Prinzip der Wirklichkeit akzeptiert werden. Evolution ist, Evolution geschieht. Sie hat die Zeit aus statischer Starre befreit und gibt ihr eine Richtung. Fortan ist Geschichte kein bloßes Potpourri von Zufällen und keine Aneinanderreihung dumpfer Wiederholungsspiele mehr. Wie immer die Ziele der Evolution aussehen, es führt kein Weg zurück aus der Neuzeit ins Neandertal.

Zum anderen ist die Ambivalenz gegenüber der Zeitpolarität zu aktivieren, d.h., innere Barrikaden, blockierende einseitige Affinitäten müssen aufgebrochen werden. Der Blick sollte nach beiden Richtungen hin offen sein. Erst wenn dies geleistet ist, hat es einen Sinn, die spezifische Problematik des Homo sapiens zu untersuchen und dessen Chancen auszuloten. Zukunftsperspektiven gedeihen nicht im Dunstkreis pauschaler, affektiver Vorurteile.

In dubio pro reo! Im Zweifel für den Angeklagten! Zur Verteidigung der menschlichen Kultur sei zunächst die Mechanik jeglicher Evolution betrachtet. Wie geht Evolution vor sich? Läuft sie harmonisch, übergangslos, »analog« ab? Oder »digital«, in Sprüngen und mit Brüchen? Fügt sich das Neue konfliktfrei und nahtlos in das Bestehende ein, oder muß ein Preis dafür bezahlt werden?

Offensichtlich sorgte jede neu entstehende Qualität zuerst einmal für Aufruhr und schien das bestehende Konzept in Frage zu stellen. Für die unbelebte Natur war das Auftreten des ersten Einzellers ein revolutionärer Einschnitt, eine Katastrophe, ein wahrer »Sündenfall«. Durch die Elemente ging gewissermaßen ein Aufschrei des Entsetzens über dieses gefräßige, vermehrungs- und veränderungswütige »Leben«. Das in Jahrmilliarden entstandene relativ stabile Gleichgewicht der Geosphäre wurde völlig durcheinander gebracht. Die Geotope – Wasser-, Erd- und Luftwüsten – verwandelten sich in Biotope. Das Leben schuf sich seine Atmosphäre, erodierte gnadenlos das Urgestein. Es fand eine biozentrische Umwandlung der Erde statt.

Alles, was man gemeinhin der menschlichen Kultur anlastet – Künstlichkeit, Selbstentfremdung, egozentrische Vereinnahmung der Umwelt –, spielte sich schon auf der Ebene der Biosphäre ab. Die Biosphäre – erinnert sei an den gigantischen Formenreichtum und die teilweise bizarren Rituale – wirkt gegenüber der Geosphäre ungeheuer artifiziell. Künstlichkeit ist Evolutionsprinzip, keineswegs ein fragwürdiges Privileg des Homo sapiens fortgeschrittenen Stadiums. Übrigens, schon die Entstehung der Elemente bedeutete hinsichtlich ihrer Ästhetik – phantastische Farben, kristalline Formen, Metallglanz ...– und ihres unterschiedlichen Reaktionsverhaltens für die gleichförmige Urmaterie »Künstlichkeit« und »Selbstentfremdung«.

Jede neu entstehende Qualität oder Dimension ist ein Schritt weg vom Elementaren, wirkt künstlich. Evolution legt keinen Wert auf bewährte, unveränderliche Standards. Bewahrung ist nicht ihr oberstes Prinzip. Sie durchbricht permanent und mit Lust das Gewohnte. »Natürlich« ist, entgegen allen nostalgisch angehauchten frommen Vorstellungen, nicht gleichzusetzen mit dem Verharren im Ursprünglichen.

Die Biosphäre war ein Schock für die Geosphäre – die Noosphäre, deren konstituierende, grundlegend neue Qualität das menschliche Bewußtsein ist, mußte wie ein Schock auf die Biosphäre wirken. Der Konflikt zwischen Bio- und Noosphäre wird noch durch die Tatsache verschärft, daß jede neue Entwicklungsstufe eine gewisse Dominanz über die vorherigen entwickelt. Das Erdreich ist der Pflanze, die Pflanze dem Tier, und das Tier dem Menschen relativ hilflos ausgeliefert. Diese zwangsläufig sich ergebende Vormachtstellung des Menschen erklärt den mythisch-biblischen Auftrag an ihn, sich »die Erde untertan zu machen«.

Evolution ist in der Tat der Auftrag, die »involvierten« Potentiale zu verwirklichen. Nüchterner ausgedrückt: Potentiale implizieren ihre Verwirklichung. Es gibt keine Spezies, die im Drang nach Selbstverwirklichung nicht bis an ihre Grenzen ginge. Grenzen sind Provisorien; sie fordern geradezu heraus, übertreten zu werden. Das notwendige teilweise Haltmachen wird erst durch schmerzliche Erfahrungen in den Verhaltenscodex einprogrammiert. Präventiver, freiwilliger Verzicht ist nirgends, auch nicht in der Biosphäre üblich. Das Leben versucht, an den schier unmöglichsten Orten Fuß zu fassen, Räume für sich zu erobern. Den unersättlichen Drang nach Ausbreitung, Vervielfältigung und Vorherrschaft kann man dem Menschen nicht als alleinigem Übeltäter anlasten. Das sind keine exzessiven Verfehlungen, keine moralischen Ausrutscher – das ist Methode innerhalb der gesamten Evolution.

Die Tatsache, daß Dominanz zur Illusion autonomer Selbstherrlichkeit verführen und in Willkür ausarten kann, sollte nicht dazu verleiten, sie zu leugnen oder als »moralisch schlecht« zu verurteilen. Nicht die Dominanz ist das Problem, sondern der Umgang mit ihr.

 

Die evolutionäre Harmonisierung der unterschiedlichen Sphären ist auch eine Frage der Zeit. Jedes neue Erdzeitalter brauchte gewaltige Zeiträume, um sich ökologisch einzupendeln. Die vielgepriesene Ökologie der Biosphäre ist seit jeher ein dynamischer Prozeß, Ergebnis unzähliger Experimente und Konflikte. Das Gleichgewicht wurde unter großen Opfern und sicher nicht ohne verheerende Fehlschläge hergestellt. Es war niemals endgültig und stabil: ein von ständiger Veränderung bedrohter, labiler Schwebezustand. Millionen von Arten mußten aussterben, um neuen und besser angepaßten Platz zu machen.

Die planetarische Ökologie befindet sich als Folge der revolutionär neuen Dimension bewußter Geist mitten in einem dramatischen Einpendelungsstadium. Offensichtlich ist es dem Menschen noch nicht gelungen, sich in die Natur ökologisch einzuordnen. Seine »Ökonische« ist ja längst nicht mehr der Urwald, die Steppe und andere räumlich und klimatisch begrenzte Biotope, sondern der gesamte Globus. Und schon liebäugelt er mit neuen, unerforschten Räumen, mit dem Kosmos. Seine ökologische Integration gestaltet sich um so problematischer, als er seine vielfältigen geistigen Potentiale mit unterschiedlicher Intensität und Geschwindigkeit verwirklicht. Wissenschaftlich-technisch auf Challengerkurs – philosophisch-weltanschaulich hoffnungslos retardiert, produziert er immer neue Katastrophen. Würde er nur einen Bruchteil der Energie, die er für den technologischen Fortschritt einsetzt, der philosophischen Welt- und Selbstreflexion »opfern« – manches würde vielleicht anders aussehen.

Zur Verteidigung des Homo sapiens muß daran erinnert werden, daß das menschliche Bewußtsein sicher nicht wie ein leuchtender Blitz über die ersten Menschen hereinbrach, um sie »über Nacht« sapiens, d.h. wissend und weise zu machen. Man darf annehmen, daß der Prozeß der Bewußtwerdung, wie übrigens auch die physikalisch-chemischen und biologischen Prozesse, ungeheuer langsam anlief und noch voll im Gange ist. Bekanntlich überzieht nur ein hauchdünner Film Bewußtheit unser Unbewußtes – schmerzlich zwar für eine geistige Elite, die sich nur zu gern auf dem Zenit der Evolution wähnt, aber kaum zu leugnen. Der siebente Schöpfungstag, da alles vollendet und vollkommen ist, dürfte wohl weit in ferner Zukunft liegen.

Für die Jünger des reinen Geistes mag die Vorstellung, daß sich das menschliche Bewußtsein noch »in statu nascendi« befindet, blasphemisch erscheinen. Läßt sich doch kaum mehr die These vom Sündenfall aufrechterhalten, die behauptet, die ersten beiden Menschen hätten sich in voller Verantwortlichkeit, d.h. in vollem Bewußtsein, falsch entschieden.

Armer Neandertaler! Als sei die Entscheidung für Bewußtsein und Geist in seinem Ermessen gelegen! Wer die schüchternen Anfänge des menschlichen Bewußtseins erahnt und dessen gegenwärtigen Zustand betrachtet, kann nur vermuten, daß eine »Sünde«, begangen im Vollbesitz eines freien und souveränen Bewußtseins, vielleicht in ein paar Jahrtausenden möglich sein wird. Genau genommen kann nur jener Gott, der als reiner und freier Geist definiert wird, sündigen. Wenn man schon einen Schuldigen sucht, wäre er der einzig Schuldige, da er ja alles, was geschah, wußte und wollte.

Der Blick auf die, von der Evolution aus gesehen, winzigen Zeiträume von ein paar Jahrtausenden Kultur entschuldigt manches. Die kulturelle Evolution ist noch relativ jung. Zudem war sie kein räumliches und zeitliches Kontinuum. Sie fand an verschiedenen, geographisch getrennten Orten statt. Jeder Kulturkreis mußte praktisch von vorn beginnen. Der Faden riß öfters ab. Manchmal bekamen die primitiveren Kulturen die fortgeschrittene Kultur ihrer Eroberer aufgepfropft. Das konnte sich ebenso befruchtend wie tödlich auswirken.

Es ist also eigentlich nicht zulässig, von der kulturellen Evolution des Menschen zu sprechen. Die Menschheit als eine gedachte Einheit ist, zumindest was die Vergangenheit betrifft, Fiktion. Das Zusammenwachsen der vielen kulturellen Nootope zur einen globalen Noosphäre, zur Welthybridkultur, deutet sich erst an.

Noch heute, im Zeitalter der Kommunikation, sind wir weit entfernt von einer intra- und interkulturellen homogenen Gleichzeitigkeit. Rudimente aus den verschiedensten Epochen der Kulturgeschichte konkurrieren im menschlichen Bewußtsein um die Vorherrschaft. Mittelalter und Neuzeit bilden seltsame Zwitter. Infantile Regressionen in frühere Entwicklungsstadien, siehe Fundamentalismen der religiösen und nationalen Art, sind nicht selten.

 

Die furiose Entwicklung der High-Tech-Kulturen läßt ahnen, daß die kreativen Möglichkeiten des Menschen noch lange nicht erschöpft sind. Die exponentielle Beschleunigung des Fortschritts mag beängstigen; sie liegt aber völlig auf der Linie der Evolution. Auch die biologische Evolution kam, nach einem zähflüssigen Anfang, erst in der »Endphase« auf Touren. Die Entwicklung der Noosphäre könnte in eine solche »heiße Phase« eingetreten sein.

Angesichts des regelmäßig sich wiederholenden, zunehmend destruktiven Scheiterns der Kultur stellt sich allerdings die Frage, ob der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins weiterhin nur ein quantitativer sein kann oder ob nicht eine neue Qualität ansteht. Nicht das Fehlen von Wissen, sondern dessen Koordination zu einer realitätsgerechten Weltanschauung dürfte die Frage sein, die über Sein oder Nicht-Sein entscheidet.

Allen Endzeitprophezeiungen zum Trotz, der Mensch ist kein Monster mit einem überdimensionierten Gehirn, zum Aussterben an eben dieser »Exzessivbildung« prädestiniert. Monströs wird er erst, wenn er kindlichen Illusionen zum Opfer fällt und diese mittels stetig wachsender Potentiale durchzusetzen sucht. Das Problem des Menschen ist nicht das »Fortschreiten« seiner wissenschaftlich-technologischen Intelligenz, sondern das Sich-Festklammern an überkommenen Weltanschauungen und Denkmodellen, die sich längst als illusorisch und in ihrer Irrealität als zerstörerisch erwiesen haben. Sein Problem ist nicht der Fortschritt, sondern das Verharren.


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