Der Bewußtseinsklick

 

Die quantitative Aufheizung der Probleme – ihre Globalisierung hat sie zur Sein-oder-Nicht-Sein-Frage hochgepuscht – verlangt eine neue Bewußtseinsqualität. Mit peripheren Lösungsversuchen ist das Scheitern der Ideologien nur noch aufzuschieben. Die klassischen Weltbilder, religiöse und säkulare, haben dem Zerfall wenig Wirksames entgegenzusetzen. Sie suchen ihr Heil in der Rückkehr zu den alten Glaubensmustern, die ganz offensichtlich versagt haben, oder sie treten die Flucht nach vorn an, in der Hoffnung, die Dinge per Wissenschaft und Technologie doch noch in den Griff zu bekommen.

Warum klammert sich das schiffbrüchige menschliche Bewußtsein an Rettungsankern fest, die nicht retten? Was hat es zu verlieren, was könnte es gewinnen? Was an liebgewordener Illusion steht auf dem Spiel? Wie wäre die Krise umfassend zu definieren?

Die vielbeschworene »Grundlagenkrise der Moderne« ist, das sei einmal hypothetisch behauptet, nicht der Verlust von ästhetischen oder ethischen Werten und auch nicht weltanschauliche Orientierungslosigkeit aufgrund historischer Erschütterung und Ernüchterung. Das sind allenfalls Symptome. Die Grundlagenkrise der Moderne ist die Krise des Absoluten, d.h. des monistischen Weltbildes. Und das zu Recht. Wohin die Idee des Absoluten führt, konnte erst ihre Verwirklichung in der Geschichte demonstrieren. Als mythisch-transzendentale Projektion war sie noch relativ harmlos. Doch in diesseitige Wirklichkeit umgesetzt, im Verlauf ihrer Metamorphosen, zeigte sie die schon beschriebenen verhängnisvollen Folgen. Das Absolute hat sich – bei aller Faszination, die es auf das kindliche Bewußtsein ausübt – als Grundlage für menschliches Denken und Handeln disqualifiziert.

Die drei klassischen Spielarten des Absoluten – Zentrik, Autonomie und Unendlichkeit – sind in die Schußlinie radikal-kritischer Beurteilung geraten.

Die gemeinhin gültige Vorstellung von Zentrik leitet sich aus dem allseits beobachtbaren Phänomen eines zentralen Bezugspunktes ab. Ihm wird eine besondere, wenn nicht die entscheidende Stellung zugesprochen. Das unterschiedliche Bedeutungsgewicht von Zentrum und Peripherie verleitet das naiv-monistische Bewußtsein dazu, das Zentrum in seiner Bedeutung zu steigern, es zu verabsolutieren und, im Gegenzug, die Peripherie zur Bedeutungslosigkeit zu relativieren.

Die Beispiele aus der Natur – und nicht nur aus der Natur – scheinen es zu bestätigen. Der Kern birgt das Wesen der Dinge, an der Oberfläche spielt sich nur Unwesentliches ab. Atome, Zellen, Organismen bis hin zu den kosmischen Konstellationen: alle Systeme sind um Zentren angeordnet, die das Geschehen bestimmen. Was draußen am Rande geschieht, gilt gewöhnlich als unbedeutende »Randerscheinung«.

Die wertende Polarisierung in ein gewichtiges Innen und ein weniger bedeutsames Außen findet sich auch bei geistiger und künstlerischer Kreativität wieder. Die ästhetische Gestaltung rangiert, von Ästhetizisten und Formalisten einmal abgesehen, hinter dem Gehalt des Kunstwerks. Der Stil hat sich der Aussage unterzuordnen, wie das Design der Funktion.

Inhalt vor Ausdruck, Substanz vor Form, Zentrum vor Peripherie – ist der Primat des einen über das andere tatsächlich berechtigt? Wieder meldet sich der Verdacht, daß die antagonistischen Aspekte nicht völlig zu trennen und gegeneinander auszuspielen sind. Denn, was wäre der massereiche Atomkern ohne die schwerelose Hülle der Elektronen? Oder am Beispiel der biologischen Zelle: Könnte der Zellkern samt genetischer Information ohne ernährendes Plasma und schützende Zellmembran existieren?

Ist die Oberfläche grundsätzlich der Ort der Bedeutungslosigkeit? Hat sich das Leben nicht im Außenbereich des Sonnensystems, auf der Außenhaut des Planeten Erde entwickelt? Spielt sich Denken nicht in der Großhirnrinde ab? Und, wieviel Aussagekraft hat ein »wesentlicher«, aber schlecht formulierter Gedanke? Trifft er die Wirklichkeit? Ist Inhalt ohne Form, Wesentliches ohne Unwesentliches, Zentrum ohne Peripherie überhaupt denkbar? Provozierender ausgedrückt: Braucht nicht das Zentrum die Peripherie, ist es von ihr nicht mindestens ebenso abhängig wie umgekehrt?

Die gleichen unbequemen Fragen müssen sich die Zentrik-Projektionen des menschlichen BewußtseinsTheozentrik, Anthropozentrik und Egozentrik – samt den auf ihnen gründenden Weltbildern gefallen lassen. Was wäre der zum absoluten Zentrum des Seins erkorene Schöpfergott ohne seine Schöpfung? Würde er nicht ziemlich verloren wirken inmitten des Nichts? Und die Anthropozentrik, ist sie als kulturelle Leitidee der Neuzeit nicht in eine hoffnungslose Sackgasse geraten? Mußte nicht der Mensch der Moderne seine »Peripherie«, die Um-Welt, als gleichberechtigt anerkennen?

Ganz zu schweigen von der marktstrategisch angeheizten Egozentrik des Individuums, die allein schon durch ihre Vermassung – jeder drehe sich um sich selbst – zum Widerspruch per se, zur lächerlichen Farce wird. Das Ich im Mittelpunkt der Welt: diesen Wunschtraum können sich nur noch Kinder und größenwahnsinnige Despoten leisten.

 

Eng verbunden mit den überzogenen Vorstellungen von Zentrik ist der zweite fragwürdige Aspekt des Absoluten, die Autonomie – synonym für die allseits geforderte Unabhängigkeit, Selbstbestimmung und Freiheit des Individuums. Auch hier scheint die Gleichung zunächst aufzugehen. Ein Mehr an Autonomie bedeutet Machtgewinn; und Machtgewinn vergrößert den Spielraum, befreit von lästigen Abhängigkeiten. Wer das Spiel um die Macht gründlich und mit Erfolg betreibt, darf sich alsbald frei und unabhängig wähnen.

Beinahe überflüssig, die vermeintliche Autonomie als optische Täuschung zu entlarven. Was wäre ein absolutistischer Herrscher oder Diktator ohne seine servile Umgebung, ohne den Apparat von Mitläufern, der ihn stützt? Was wäre das »autonome« Ich innerhalb der modernen Gesellschaft ohne das System von Organisationen, die sein Überleben sichern? Es ist wie alles, was existiert, in ein Netz von tausend Abhängigkeiten verstrickt.

Selbst die personifizierte Ur-Utopie des Autonomen, der Gott der monotheistischen Religionen, geriet durch seine Schöpfung in eine – zumindest emotionale – Abhängigkeit. Das Christentum nennt ihn die »Liebe«. Doch Liebe setzt – wie Macht – ein Gegenüber, eine Beziehung voraus. Wer liebt oder herrscht, braucht ein Objekt und hat damit seine autonome Selbstherrlichkeit verloren. Autonomie in letzter Konsequenz wäre nur denkbar in einem totalen Vakuum, im Nichts, jenseits aller Bezogenheit. Derlei Wirklichkeit ist weder bekannt, noch erscheint sie wünschenswert.

Nicht zu vergessen im Zusammenhang mit dem Streben nach absoluter Autonomie ist ein Phänomen, das mit der Mechanik eines Naturgesetzes abläuft: Macht führt in die Isolation. Und irgendwann sieht sich der Diktator einer Umgebung gegenüber, die nur auf seinen Sturz lauert. Absolutistisch beanspruchte Macht wird zum Bumerang. Das bekamen die Mächtigen der Geschichte – und des Himmels – mit Regelmäßigkeit vorgeführt. Diese bittere Erfahrung ist auch dem anthropozentrischen Denken, das sich respektlos der Natur bemächtigte, nicht erspart geblieben. Die scheinbar wehrlose, untertane Natur rächt sich, schlägt zurück. Und wenn sie »nur« aufgibt und stirbt und damit das Überleben ihres Peinigers, des Menschen, in Frage stellt.

 

Unendlichkeit ist der dritte Stützpfeiler des Absoluten. Was absolut ist, darf keine Grenzen haben. Grenzen werden als unzumutbare Beeinträchtigung, als entwürdigende Einschränkung des Aktionsradius empfunden. Die Unendlichkeit: eigentlich unvorstellbar, aber mit Blick auf die »Unendlichkeit« der Meere und des Weltalls ein vager, um so faszinierenderer Traum; Herausforderung für den schier unstillbaren Expansions- und Forscherdrang des Menschen.

Die Koketterie des Bewußtseins mit dem Unendlichen begann recht vielversprechend. Sie initiierte einen wahrhaft grandiosen Höhenflug menschlicher Kreativität. Doch nach dem euphorischen Aufbruch des wissenschaftlich-technischen Zeitalters in die Unendlichkeit des Wissens, Machens und Produzierens hat eine ernüchternde Epoche schmerzlicher Grenzerfahrungen begonnen. Plötzlich ist alles endlich geworden: die Natur als Ressource für die industrielle Produktivität und als Endlagerstätte für den exkrementären »Spinn-off« dieser Produktivität; der Planet Erde als Heimstatt für die vermehrungstüchtige Gattung Homo sapiens und als Spielwiese seiner kriegerisch-destruktiven Lüste; und selbst das Universum sei nur endlich, behauptet neuerdings die Wissenschaft.

Das sollte einen denkenden Menschen nicht wundern. Ist doch alles Seiende gemeinhin durch Begriffe definiert, d.h. begrenztabgegrenzt gegen anderes Seiendes. Und was begrenzt ist, kann nicht unendlich sein. Wen immer man als »unendlich« postuliert – einen Gott, den Menschen oder das Ich – der andere schränkt ihn ein, beraubt ihn der Unendlichkeit. Alles Seiende ist endlich. Nur das Nichts ist ohne Ausdehnung, »unendlich« klein. Weder Sein noch Nichts können Unendlichkeit beanspruchen. Das Sein ist vom Nichts »durchlöchert«, das Nichts vom Sein »durchsetzt«. Beides sind Annäherungs- oder Grenzwerte, die – absolut – nicht erreicht werden können.

 

Zentrik, Autonomie und Unendlichkeit – die Attribute des Absoluten – sind in Verruf geraten. Sie haben sich als trügerisch und gefährlich erwiesen. Die Phänomene der Wirklichkeit sind präziser zu analysieren, neu zu interpretieren. Das Bewußtsein muß sich eine neue Grundlage schaffen. Eine Korrektur des Weltbildes ist unvermeidlich.

Die vielzitierte Wende des Denkens kann keine »kopernikanische Wende« sein. Es macht keinen Sinn mehr, das eine Zentrum durch ein anderes zu ersetzen, einen neuen absoluten Bezugspunkt zu suchen. Das Absolute hat, nicht nur in der Physik, ausgespielt. Als Utopie ist es in allen Bereichen der menschlichen Kultur an seinem absurden Endpunkt angelangt.

Vermutlich geht es um den gigantischsten Illusionsverlust in der Geschichte der Menschheit. Solches tut weh. Aber es gibt nur diese eine, von der Evolution vorgegebene Alternative für den Menschen: Bewußtseinsentwicklung oder Bewußtseinseliminierung. Sollte der »Bewußtseinsklick« nicht stattfinden, dann würde Homo sapiens nicht, wie vorausgesagt, am überdimensionierten Volumen seines Gehirns, an einer biologischen Exzessivbildung aussterben, sondern an einer geistigen: an der Utopie des Absoluten.


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