Sinn und Sinnlichkeit (S. 24 ff.)

»Homo sapiens… als unbeabsichtigtes, kosmologisch unbedeutendes und vorübergehendes Randphänomen eines sinnleeren Universums.« Ihre Bescheidenheit ehrt Sie. Aber man kann die Bescheidenheit auch übertreiben. Die Frage, ob Universum und Mensch »beabsichtigt« sind, erscheint mir spekulativ. Auf solche Fragen verzichtet der Agnostiker wohlweislich. Dass aber die Evolution zumindest auf unserem Planeten in Richtung des komplexen Wesens Homo sapiens hinarbeitete, lässt sich kaum bestreiten. Wir sind und wir sind von der Evolution »gewollt«, ansonsten gäbe es uns nicht.

Die Bedeutung eines Wesens wie Homo sapiens bemisst sich nicht unbedingt an seiner Quantität, seiner Kleinheit im Vergleich zu den gigantischen Dimensionen des Universums, sondern an seiner Qualität. Und da bin ich geneigt, diesen Homo sapiens trotz all seiner Fragwürdigkeit zu bewundern. Was er im Lauf der kulturellen Evolution geleistet hat und was sich hier auf Erden abspielt, ist grandios. Dagegen erscheint mir das Geschehen innerhalb der Galaxien geradezu langweilig! Dass alles kreative Können des Menschen auch seine dunkle, destruktive Kehrseite hat, verwundert ein polar geschultes Bewusstsein nicht. Wer Polarität verinnerlicht hat, verzichtet auf pauschale Lobeshymnen oder Verdammungsurteile über Homo sapiens.

»Sinnleeres Universum«? Eine ziemlich gewagte Behauptung. Passt das, was sich im Universum dank dessen Gesetzen, Ordnungen, Systemen abspielt, nicht zusammen und ergibt somit Sinnbezüge, einen Sinn? Auch der von Ihnen gern benutzte Begriff der »Selbstorganisation« spricht für ein sinnvolles, zielgerichtetes Geschehen. Wer etwas »organisiert«, hat ein Ziel im Auge. Ich spreche hier nicht von einem Sinn, der sich durch den Bezug auf eine »andere Welt« ergibt, sondern von einem innerweltlichen Sinn.

Dieses Universum ist »angefüllt mit Sinn«. Sie sollten öfter mal Naturfilme anschauen, welch zielgerichtete, sinnvolle Raffinesse dort in der Natur am Werk ist. Wenn das ganze Universum Chaos wäre, ein Potpourri von Zufällen, wo nichts zusammenpasst, dann hätten Sie mit Ihrer Rede vom »sinnleeren Universum« recht. Mit scheint, hier ist wieder einmal Ihre Angst vor einem womöglich transzendentalen »Sinngeber« mit Ihnen durchgegangen und lässt Sie trotzig jeglichen Sinn im Universum abstreiten. Vielleicht sollten Sie sich auch einmal diese Fragen stellen: Was in diesem Universum treibt mich an, eine Ethik zu entwerfen, einen Sinn des Lebens zu definieren? Macht mein »Manifest« Sinn oder ist es nur Teil eines »sinnleeren Universums«?

Ihre Gleichsetzung von »Sinn« mit »Sinnlichkeit« klingt begrifflich gut, erscheint mir aber etwas mager. Ja, ohne Wahrnehmung über die Sinne geht nichts. Aber Sinn besagt ja wohl mehr als Anrührung durch die Sinne. Und das Streben nach »Höherem«, nach einem »höheren Sinn«, das man, wie gesagt, aus der Evolution ableiten könnte, abzukanzeln, nur weil unsere Vorfahren in mythischen, meinetwegen »illusorischen« Bildern darüber verfangen waren, scheint mir etwas zu kurz gedacht.

»Transzendiert« Homo sapiens nicht permanent seine Grenzen in Richtung eines »Höheren«? Bewegt er sich nicht immer noch, auch nach der Säkularisierung, in Richtung »Gottesmythos«, in Richtung Allwissenheit, Allmacht, Allgegenwart und Unsterblichkeit, also in Richtung eines Höher-, Höchst- und zugleich Unmöglichen? Die Natur hat ihm das Potential und ein Instrument zur Realisierung dieses Potentials gegeben, das ihn offensichtlich zu einer gewissen Maßlosigkeit im Wollen, Handeln und Phantasieren, gipfelnd im Gottesmythos, verführt. Evolution ist nichts anderes als die Verwirklichung dieses Potentials. Mit »Sinnlichkeit« allein können Sie den »Sinn« von Homo sapiens, seiner Existenz und seines Strebens nicht erklären.

Auch als Wortspiel zur Definition eines Sinns kommen Sie mit den »Sinnen« alleine nicht weit. Ja, jeglicher Sinn erschließt sich uns zunächst über die Sinne. Der Sinn selbst ist jedoch nichts »Sinnliches«, sondern eine geistige Kategorie, die Erkenntnis eines Zusammenhangs, einer Beziehung, eines »Sinnbezugs««. Ihre eigene Argumentation in dem ganzen Manifest strotzt übrigens eher vor rationalen Argumenten als vor Sinnlichkeit. Ich vermisse darin sinnlich ansprechende Beispiele aus der Ästhetik.

Ihr Hedonismus reiht sich ein in Ihre einfachen, monistischen Prinzipien: Lust und Glück als die »eigentlichen, einzig wahren« Antriebe des Menschen, und das Ganze möglichst materialistisch auf die Sinne und die Sinnlichkeit reduziert – ist das nicht etwas dünn? Gibt es neben den sinnlichen nicht auch emotionale und – durch den Gewinn von Erkenntnissen – geistige Sinnerfahrungen?

Auch in anderer Hinsicht erscheint mir Ihr Hedonismus als oberster Antrieb fragwürdig. Lust- und Glücksgefühle sind bekanntlich »nur« Belohnungsmechanismen der Natur für die elementaren Triebe der Selbst- und Arterhaltung, eben deshalb an Nahrungsaufnahme und Sexualität gekoppelt. Es sind »Köder für Anstrengungen«, nicht Selbstzweck. Der echte Hedonist aber, immer auf der Suche nach den Bonbons des Lebens, scheut definitionsgemäß jegliches Opfer, jede Anstrengung. Er spielt nicht gerne Feuerwehr- oder Müllmann, Verkäuferin, Lehrer etc. »Per aspera ad astra!« – das schmeckt dem Hedonisten nicht. Mit Mühsal, Leid, Tragik, Scheitern kann er nichts anfangen. Das würde ihn aus seiner Lustbesessenheit herausreißen.

Der Begriff »Überlebenskampf«, das tatsächlich oberste Prinzip des Lebens, taucht denn auch in Ihrem Manifest nicht auf. Für die Mehrzahl der Menschen auf diesem Planeten muss Ihr Plädoyer für die Lust wie Spott und Hohn klingen. Erzählen Sie das einer Näherin in Bangladesch oder einem Lastenträger in irgendeinem Hafen der Dritten Welt. Solche Plädoyers kann sich nur leisten, wer die Welt aus epikureischer Abgehobenheit, von einer privilegierten Warte aus betrachten darf oder wer auf einer der wenigen Inseln der Seligen, des Wohlstands und der Lustsuche lebt – verständlich aus dem Munde eines forsch fröhlichen Philosophen, der sich locker lächelnd mit unkonventioneller Baseballcap der Öffentlichkeit präsentiert.

Konsequenterweise vermeiden Sie als Hedonist thematisch alles Negative – Krankheit, Scheitern, Unglück, Tod, die dunkle Seite des Lebens, an der sich die transzendentalen Heilsmythen abarbeiteten und für die es zumindest vor dem Tod keine Erlösung, aber eine Erklärung gibt, die zu finden die Aufgabe eines Philosophen wäre, der sich mit der ganzen Breite der Conditio humana befasst.

Dabei wäre die »philosophisch erlösende« Erklärung – das Existenzrecht des Negativen – für Sie als vorwiegend logisch denkenden und argumentierenden Menschen gar nicht so schwer, hätten Sie, sorry, ein »polares Weltbild«, das die logische Notwendigkeit des Negativen nicht nur akzeptiert, sondern geradezu fordert. Stattdessen verdrängen Sie, nach Epikur, das »Unglück« als »größtes Übel« und konzentrieren sich unverdrossen auf die Lust- und Glückssuche als den eigentlichen Sinn des Lebens.

Irgendwann merken Sie dann doch, dass da etwas nicht stimmt. Dem von Ihnen so bezeichneten »aufgeklärten« Hedonisten nehmen Sie an späterer Stelle genau das, was ihn ausmacht, und stellen der Suche nach Lust, Glück und Eigennutz deren Gegenspieler, den »Altruismus« zur Seite. Damit relativieren Sie aber ihre ursprüngliche These vom Hedonismus und Eigennutz als den »eigentlichen« Antrieben. Schön, dass Sie quasi im letzten Moment doch noch irgendwie die »Kurve kriegen«. Hätten Sie in Ihrem Denken auf die Suche nach dem »Einen« und »Eigentlichen« verzichtet, Sie hätten es wahrlich leichter gehabt.

Noch ein Blick auf die Realität. Lust- und Glücksgefühle sind als Dauerzustand unerträglich. Schokoladenberge und nicht endende Orgasmen sind naive Wunschvorstellungen, in der Konkretisierung quälend bis unerträglich. Sie erinnern übrigens fatal an die transzendental-hedonistischen Vorstellungen von »der ewigen Glückseligkeit«. Wollen Sie diese tatsächlich nur »säkularisieren«? Was für einen Sinn macht solch ein »Paradies«? Wie geht ein Hedonist mit Unlust, mit den emotionalen Erfahrungen der Trauer, Empörung, Verachtung, Verzweiflung um? Blendet er sie aus, schottet er sich dagegen ab oder gerät er in Panik?

Die emotionale und geistige Klaviatur hat mehr als hedonistische Lüste wie den »Geruch von frisch gebackenem Brot« zu bieten. Leben ist mehr als Lust und Glück, die ohnehin nur Momente darstellen können. Zu einem »reichen Leben« gehören bekanntlich auch die Tiefen und die Durststrecken. Reduktionistische Konzepte werden der »Conditio humana«, die Sie als Humanist ja wohl akzeptieren, nicht gerecht, sind schlichtweg unrealistisch. Die Fixierung auf die hedonistischen Lust-, Glücks- und Paradiesvorstellungen – egal ob transzendentale oder säkulare – entpuppt sich beim genauen Hinschauen als kindlich-kitschige Wunschvorstellung.

Erstaunlicherweise bringen Sie nach dem Lob der Sinnlichkeit den »Zusammenhang von Glückseligkeit und Gerechtigkeit« ins Spiel und preisen nach Epikur die »Vernunft als höchstes Gut«. Damit entfernen Sie sich aber ziemlich weit von »Sinn und Sinnlichkeit«. Hedonismus und Gerechtigkeit? Hedonismus und Vernunft? Wahrlich keine harmonischen Paare! Wo bleibt hier die Lust an der Unvernunft, an allem Exzentrischen, Ekstatischen? »Vernunft«, habe ich einmal gesagt, »ist der sichere Weg in die Depression!« Das Diktat der Vernunft beflügelt sicher nicht die Lebenslust, es sei denn, Sie sind von Ihrem Charakter her auf »Maß und Mitte« und auf »Verstandesmensch« geeicht.

Und Ihr Bedürfnis nach Gerechtigkeit wird spätestens dann erschüttert, wenn man Ihnen eines Ihrer Privilegien streitig macht. Der Ruf nach Gerechtigkeit erschallt bekanntlich immer und nur »von unten«, aus den Reihen der Unterprivilegierten. Die »relative Gleichmäßigkeit der Güterverteilung« mag als Wunschvorstellung zum Wohlbefinden der unteren Klassen beitragen, sie bleibt jedoch ein utopisches Unterfangen. Aber das ist ein anderes Thema.

Mit der Lobpreisung des »vernünftigen, anständigen und gerechten Lebens« haben Sie sich immerhin ziemlich weit vom zuvor propagierten Hedonismus und dem Eigennutz entfernt, gewissermaßen einen Haken in die andere Richtung geschlagen. Inwieweit diese wie alle »Idealvorstellungen« für jedermann attraktiv und realistisch sind, darüber darf noch nachgedacht werden.

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