Ethik ohne Gott (S. 65 ff.)

Zum Thema Ethik wäre vorweg zu sagen: Wer wie Sie den »freien Willen« leugnet dank der Allmacht des limbischen Systems, kann sich den Entwurf einer Ethik sparen. Denn, was nützen alle ethischen Einsichten und Appelle, alle »kategorischen Imperative«, wenn sich der Mandelkern nicht darum schert und die Entscheidungen diktiert. Ein Ethikkatalog – Sie entwerfen in gut mythischer Tradition am Ende einen in »Zehn Angebote« abgewandelten »Dekalog« – macht nur Sinn, wenn Sie dem präfrontalen Cortex mittels Training, d.h. Einübung ethischer Einsichten und Wertvorstellungen, ehemals »Gewissensbildung« genannt, eine Chance geben, sich vom Diktat des Mandelkerns wenigstens ansatzweise zu befreien, was wiederum bedeutet, dass Sie Homo sapiens fortgeschrittenen Stadiums wenigstens einen »Hauch« Freiheit, d.h. bewusster Entscheidungsmöglichkeit zugestehen.

»Kein noch so verkommenes Subjekt unserer Spezies hat jemals derartig weitreichende Verbrechen begangen, wie sie vom Gott der Bibel berichtet werden!« Sie spielen auf Sodom und Gomorrha und die Sintflut an. Ersetzen Sie den Gott der Bibel durch Ihren »Nachfolgegott« Natur, vergleichen Sie die biblische Sintflut mit jenem Tsunami in Fernost, vergleichen Sie Sodom und Gomorrha mit Pompeji. Ob Sie diese Geschehnisse – Sie nennen sie »Verbrechen« – wie unsere Vorfahren in eine mythische Erzählung verwandeln oder sie sachlich dokumentieren, erbarmungslos sind beide verursachenden »Mächte« oder »Götter«. Ist die Natur ein »verkommenes Subjekt«?

Den alttestamentlichen Gott auf »Sadismus« und die »Ausrottung ganzer Völker« zu reduzieren ist eine extreme Zuspitzung. In frühen Zeiten war die Vernichtung des Feindes selbstverständlich, das hatte wenig mit Religion zu tun, auch wenn man die Kriege mit einem religiösen Heiligenschein zu verbrämen suchte. Jede Kultur hatte ihren Gott oder ihre Götter, die ähnliches erwarteten oder versprachen. Und die säkularen »totalen« Kriege der Neuzeit unterscheiden sich keineswegs von den religiös umflorten Vernichtungsfeldzügen. Im Gegenteil. Dank der technischen Effizienz waren und sind sie grausamer als alle vorigen. Nicht der Gott des Alten Testaments ist schuld an den Grausamkeiten der Geschichte. Er entsprang nur der Wunschphantasie eines relativ unbedeutenden, schwachen, von mächtigeren Völkern bedrohten Nomadenvolks, das sich zur Stärkung seines Selbstbewusstseins von seinem Gott »auserwählt« fühlte und natürlich vom Sieg über seine Feinde träumte.

Sie sollten den Gott des Alten Testaments nicht dämonisieren. Vergleichbare Droh-, Wunsch- und Bestrafungsphantasien finden Sie in allen frühen Kulturen, von Amerika bis Asien. Von einer Sintflut berichtet z.B. auch das Gilgamesch-Epos. Die Götter der Azteken und Mayas, die das bei lebendigem Leib herausgerissene Herz des Geopferten forderten, der Gott Shiva der Inder, als Gott der Zerstörung, und die Dämonen und Götter der anderen Kulturen, verehrt und gefürchtet bis in unsere Zeit, waren und sind nicht harmloser oder liebenswerter als jener Gott Jahwe.

»… ein pazifistisch anmutender Gott der Nächstenliebe aus der theologischen Mottenkiste hervorgezaubert…« Diese Bemerkung ist Ihr vielleicht gröbster Fauxpas in der Beurteilung des Christentums. Entweder kennen Sie den Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament nicht oder Sie wollen ihn nicht wahrhaben, weil er zu Ihrer pauschalen Verdammung der Religion nicht passt.

Jener Jesus, und das sollten Sie positiv zur Kenntnis nehmen, leitete durch seine horizontale Blickrichtung auf den »Nächsten« auf Kosten der vertikalen, gottbezogenen Frömmigkeit – durch seine Gleichsetzung von Gottes- und Nächstenliebe – ungewollt und unbewusst die Säkularisation ein. Das ist nicht »theologische Mottenkiste«, das war der revolutionäre Beitrag des Jesus von Nazareth innerhalb der Mythengeschichte, auch wenn er geschichtsbedingt noch im Bild von seinem »Vater im Himmel« und einem »jenseitigen Reich« verfangen war. Diese Leistung sollten Sie ihm neidlos zugestehen. Übrigens, gerade auch weil er in diesem entscheidenden Aspekt in Konflikt zur damaligen religiösen Elite geriet, musste er sterben.

Ja, es gibt auch innerhalb der Mythengeschichte eine »Evolution«. Wenn Sie daran interessiert sind, statt rigider Konfrontation Brücken zu bauen, dann knüpfen Sie an die Botschaft jenes Wanderpredigers an. Natürlich ist dessen geforderte undifferenzierte »Nächsten- und Feindesliebe« das absurde, utopische Gebot eines »Hyperempathikers«. Warum sollte ich den Nächsten, jeden Nächstbesten lieben? Weil jedermann geliebt werden will, hat jene vage Nächstenliebe seine Gloriole bis heute nicht verloren.

Auch Sie merken vermutlich nicht einmal, dass Sie mit Ihrer humanistischen Ethik der »allgemeinen Menschenliebe« gar nicht so weit von jenem alles überstrahlenden »Gebot« entfernt sind. Sie sollten sich in der Auseinandersetzung mit dem Christentum nicht allzu sehr an dem Gott des Alten Testaments abarbeiten. Diesem Gott hatte schon jener Jesus in entscheidenden Punkten widersprochen: »Euch wurde gesagt… ich aber sage euch…« Ansonsten kämpfen Sie gegen Windmühlen.

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