1. Die Mythen – Faszination und Wirklichkeit
Mythos – Sinn, Funktion, Geschichte
»Mythos«,
der Begriff ist durch seinen inflationären Gebrauch ziemlich vage. Beinahe
alles scheint sich zum Mythos zu eignen: das Orakel von Delphi und Kleopatra;
der Heilige Gral und Alexander der Große; Coca Cola und Marilyn Monroe… Alles,
was über das Gewöhnliche hinausragt und an das Wunderbare heranreicht, kann zum
Mythos erhoben werden. Unsere Überlegungen sollen sich auf die großen,
systembildenden, institutionalisierten Mythen, die Religionen, konzentrieren.
Ihr Ursprung reicht in die Frühgeschichte der Menschheit. Der Anfang von Kultur
und Geschichte wird ja gemeinhin mit den ersten Begräbniskulten und den damit
verbundenen Jenseitsvorstellungen gleichgesetzt.
In den frühen Tagen der Menschheit war die
Faszination des Unerklärlichen, Ominösen, Unheimlichen, Unerreichbaren, des
Bewundernswerten und Angsteinflößenden die Quelle der Mythen. Phantasiebegabte
Menschen – Dichter, Propheten, Verzückte – erzählten Geschichten von Dämonen,
Geistern, Helden und Göttern. Es entstand ein Blütenstrauß von Sagen und
Legenden, oft mit einem historischen Bezugspunkt, immer aber angesiedelt in der
Grauzone, besser gesagt: in der überaus bunt schillernden Leuchtzone, zwischen
Möglichem und Unmöglichem. Es sind Geschichten, die »nicht von dieser Welt« zu
sein scheinen und sich doch mit den existenziellen Fragen des Menschen
auseinandersetzen.
Manche der Mythenerzähler beriefen sich gar auf
göttliche Offenbarungen, auf eine Quelle aus einer jenseitigen Welt. Diese
»transzendentalen« Mythen – entstanden im Halbdunkel zwischen erfahrener und
phantasierter Wirklichkeit, genährt aus Ängsten und Wünschen – entwickelten
sich im Lauf der Geschichte zu Kulten und Religionen mit dem umfassenden
Anspruch auf Welterklärung, Sinndeutung und richtige Lebensgestaltung, gepaart
mit einem Heilsversprechen. Zunächst noch an ihren jeweiligen Kulturkreis
gebunden könnte man sie als »endemische Gewächse« bezeichnen, die sich mit der
Zeit zu verbreiten suchten und sich den neuen Welten mehr oder minder
anpassten, um dann schließlich doch auszusterben.
Eine »Hochreligion« wie das Christentum wird sich
vehement dagegen wehren, in eine Reihe mit jenen bis in die Frühgeschichte
reichenden Mythen und dem »Aberglauben heidnischer Kulte« gestellt zu werden.
Auf seinen vermeintlich finalen Wahrheitsanspruch fixiert, vergisst das
Christentum, dass Ursprung, Sinn und Funktion der großen Mythen immer die
gleichen waren, auch wenn die Antworten gegensätzlich ausfielen.
Was
ist der emotionale, was der geistige, »spirituelle« Ursprung der Mythen? Was
bieten die Mythen ihren Gläubigen? Was macht ihren Erfolg aus? Was passiert mit
ihnen im Lauf der Geschichte? Und warum sind sie dem klassischen Muster von Aufstieg und Fall unterworfen?
Emotional dürfte das Hauptmotiv der Mythen die Angst sein, die existenzielle Verunsicherung, die den Menschen, ausgeliefert den Bedrohungen und dem Tod, nach Lösungen suchen lässt. Geradezu überbordend waren zu Beginn der »Menschwerdung«, in den Kindertagen der Menschheit die Ängste, der Schauder und die Ergriffenheit vor spektakulären Naturphänomenen. Wer war da am Werk? Konnte man sich mit den unberechenbaren Mächten irgendwie arrangieren? Wie ließen sie sich dazu bewegen, den Menschen nicht nur vor den Gefahren zu retten, sondern auch seinen Wunsch nach einem besseren, glücklichen Leben zu erfüllen...