Zensur lebenslänglich

 

Das Erziehungssystem von Zuckerbrot und Peitsche wäre nicht so wirkungsvoll, hättest du nicht eine Art Lerngedächtnis für alles, was dir „gut tut“ oder „schlecht bekommt“. Es prägt sich dir ein, wofür du belohnt und wofür du bestraft wirst.

Sie nennen dieses Prägungsinstrument „Gewissen“. Es sei göttlichen Ursprungs, die Stimme eines absoluten Sittengesetzes. Sie preisen es als letzten Hort individueller Entscheidungsfreiheit, als Repräsentanten eines unantastbaren Ich. Dieser inneren Stimme sei in jedem Fall Gehorsam zu leisten. Wer immer sich auf sein Gewissen beruft, darf allgemein Respekt erwarten.

Peinlich, dass dieses Gewissen trotz göttlicher Weisung und absolutem Sittengesetz recht unterschiedlich ausfällt. Bekanntlich gibt es so viele Gewissen, wie es Menschen gibt. Man kann aus einem Säugling einen Christen, Hindu, Moslem oder Atheisten machen, einen Kommunisten oder einen Kapitalisten.

Du kommst als ein scheinbar unbeschriebenes Blatt auf die Welt. Jede Kultur ist von ihren Idealen und ihrer Ethik überzeugt. Also schreiben sie fleißig ihren Moralcodex auf deine Matrize Gewissen. Sie wollen eine getreue Reproduktion ihrer selbst, obwohl sie doch manchen Grund hätten, an sich zu zweifeln. „Die ihre Kleinen klonen!“

Sie drängen dir einen miesepetrigen Gott auf, züchten dir einen krankhaften Ehrgeiz, predigen dir fragwürdige Opfer, versprechen einen fadenscheinigen Himmel und drohen mit der Hölle. Sie implantieren dir sinnlose Ängste, süßliche Hoffnungen und übersteigerte Wünsche.

Den Zweifel verbieten sie dir, denn der Zweifel ist Sünde. Der Zweifel ist der große Saboteur.

Ihre einzigen Gegner wären deine Instinkte. Aber – der Mensch hat keine oder nur „niedere“ Instinkte, behaupten sie. Längst haben sie deine Instinkte verwirrt. Jahrelang zum Gehorsam verführt, hast du vergessen, was du einmal wolltest. Deine spontanen Impulse – sie entsprachen nicht der geforderten Norm – bekamen sie fest in den Griff. „Das sagt man nicht, das tut man nicht!“

Deine kindliche Direktheit wurde zuerst bewundert und belächelt, dann systematisch zerstört. Man hat aus dir einen Taktiker gemacht, der nicht mehr sagt, was er denkt. Du hast gelernt, dich zu schämen und zu schweigen; spontanes Denken, Reden oder Handeln würde dich unweigerlich in blamable Situationen führen. Du wolltest ihre Erwartungen an dich – die hatten sie schon, als sie sich zum ersten Mal lächelnd über dich beugten – nicht enttäuschen.

Sie haben alles für dich sortiert, etikettiert und auf der Werteskala zwischen „Gut“ und „Böse“ eingetragen. Sie haben deine Gefühle nach den ihren geeicht. Du bewunderst, was sie bewundern; verachtest, was sie verachten; verabscheust, was sie verabscheuen.

Dein Gewissen ist kein Programm, keine „Software“, die du beliebig auswechseln kannst. Es lässt sich nicht per Knopfdruck auf „off“ stellen. Es ist tief eingesickert, sitzt nicht im Gehirn, sondern in den Knochen, in jeder einzelnen Zelle. Es ist ein Teil jenes Schattens, über den du nicht springen kannst. Es sei denn, du reißt dir das Korsett gewaltsam vom Leib, missachtest trotzig die Verbotsschilder, trampelst die Zäune nieder und probierst gegen alle Drohungen und Ängste von den verbotenen Früchten.

Ob man dir ein religiöses, ethisches oder ästhetisches Gewissen verpasst hat, macht keinen großen Unterschied. In jedem Fall ist es eine lebenslängliche Zensur, die beim einen liberaler, beim anderen mit rigoroser Härte arbeitet.

 

Das Gewissen ist eine gestrenge Vorzimmerdame. Sie lässt nur den hinein, der angemeldet und erwünscht ist. Schade, du versäumst manchen überraschenden, interessanten Besuch.

Das Gewissen ist ein Abschirmdienst. Es observiert die Systemfeinde und versperrt ihnen den Zugang zu den Schaltzentren. Wäre es wirklich so schlimm, wenn dein borniertes Systemdenken unterwandert würde?

Das Gewissen ist ein Filter, das alles herausfiltert, was die Reinheit deiner Gedanken trüben und dich vom angestrebten Ziel ablenken könnte. Und da wunderst du dich über die sterile Ordnung und Langeweile?

Das Gewissen ist ein Vorarbeiter, der die müde werdenden Kulis bei ihrer Sklavenarbeit antreibt, manchmal bis zum Zusammenbruch. Sollte dir das passieren – du wärst nicht der einzige Märtyrer des eigenen Gewissens.

Das Gewissen ist eine Angstmaschine. Sie lähmt dich und flüstert dir ein, bestimmte Dinge zu meiden. Du wirst nie den ganzen Geschmack von Leben kennen lernen.

Und schließlich: Das Gewissen ist ein Gericht, das dein „schuldig“ gewordenes Ich auf die Anklagebank stellt, es ermahnt, verurteilt und manchmal unbarmherzig bestraft.

Die belohnende und strafende Hand deiner Erzieher hat sich in deinem Gewissen einen unverrückbaren Platz erobert. Es funktioniert wie das Gewissen eines gut dressierten Hundes, d. h. auch in Abwesenheit seines Herrn. Ein Leben lang wirst du wissen, was du tun darfst und was nicht. Zukünftige Entscheidungen sind vorweggenommen, Konflikte vorprogrammiert. Du wirst demütig Gehorsam leisten oder in euphorischer Selbstüberschätzung nach den Sternen greifen. Aber nie wirst du erfahren, was tatsächlich zu deinem Besten wäre.

Wenn man das Denken eines Erwachsenen mit Gewalt und schlechten Tricks umkrempelt, nennt man das „Gehirnwäsche“ und ein „Verbrechen“. Wenn man das Innere eines Kindes überrumpelt und mit seinen eigenen Wertvorstellungen infiltriert, nennt man das „Gewissensbildung“. Und man ist stolz darauf.

 

Leseproben | Home