2.02
Der Preis
Es geschieht Merkwürdiges in dieser
„auseinanderdividierten“ Gesellschaft von Spezialisten. Da bemühen sich die
einen auf Intensivstationen um jedes noch so kaputte Menschenleben, während
anderswo Menschenleben von Tötungsspezialisten erbarmungslos – für eine „gute
Sache“ versteht sich – ausradiert werden.
Wissenschaftler schauen hoffnungsvoll
durch ihre Elektronenmikroskope und experimentieren unermüdlich in ihren
Labors. Sie spalten Atome, bündeln das Licht, synthetisieren Moleküle, basteln
an den Genen und entwerfen neue Lebewesen. Aus ihren naiven Forscherträumen
werden sie erst herausgerissen, wenn die Produkte ihrer Forschung in der
Vernichtungsmaschinerie auftauchen und in verheerender Weise wirksam werden.
Entsetzen und Ernüchterung sind nicht von langer Dauer. Geködert von Neugier,
Ehrgeiz, Ruhm und Prämien machen sie sich wieder an die Arbeit. Verantwortlich
für eventuelle Katastrophen sind die anderen.
Besessenheit und Machertum auf der
einen, Gleichgültigkeit und Unvermögen auf der anderen Seite – Glanz und Elend
des Spezialisten! Er übt sich in dümmlicher Selbstbescheidung und erklärt sich
für „inkompetent“, wenn es um ein Thema geht, das seinen Fachbereich
übersteigt. Wer nie den Blick über seinen Gartenzaun riskiert, traut sich bald
kein Urteil mehr zu über das, was „da draußen“ passiert. Er darf sich
allerdings auch nicht wundern, wenn sich die Dinge anders entwickeln, als er es
gedacht oder eben nicht gedacht
hatte.
Verliebt ins Detail – ohne Gespür für
das Ganze. Der Spezialist gleicht dem Manne, der eifrig ein Mosaiksteinchen
poliert, ohne zu wissen, in welches Bild es eingefügt wird. Die Koordination
oder kompositorische Gestaltung überlässt er anderen.
Die Politiker, die sich dazu berufen
fühlen, haben sich, historisch gesehen, als notorische Versager ausgewiesen.
Sie sind die miserabelsten und gefährlichsten „Koordinatoren“, weil auch sie
das Ganze letztlich ihrem Spezialinteresse, nämlich der Macht opfern. In der Geschichte wimmelt es zwar von Philosophen,
Propheten, Moralisten und allerlei klugen Köpfen. Sie haben jedoch selten den
Status des Hofnarren oder wirklichkeitsfremden Weltverbesserers überwunden.
Man kann auf dem Vulkan tanzen oder
wie gelähmt auf die sich nähernde Katastrophe starren und hoffen, dass sie
vorüberzieht. Die großdimensionalen Katastrophen haben die Eigenart, sich im
Einzelschicksal, sozusagen im „Kleinformat“, anzudeuten. Bevor das Ganze aus
dem Gleichgewicht gerät, „umkippt“ und zerstört wird, ist der Einzelne längst
„infiziert“. Der Preis für Fehlentwicklungen, wie das überzogene
Spezialistentum, wird nicht nur von der Gesellschaft, sondern von jedem
Einzelnen eingefordert.
Der Mensch ist zwar als das höchst
entwickelte Lebewesen der Erde extrem anpassungsfähig. Er hat relativ viele
Ausweich- und Kompensationsmöglichkeiten, um einseitigem Druck standzuhalten.
Es gibt jedoch Toleranzgrenzen, die nicht ungestraft übertreten werden.
In seinem Produktivitätswahn hat der
Moderne die biologische Uhr, den Rhythmus von Spannung und Entspannung
abgestellt und durch eine Uhr ersetzt, die unbarmherzig tickt. Die produktive
Dauerkonzentration gilt als Standard. Atempausen werden als Leistungslücken
empfunden. Entspannung gönnt man sich nur auf dem niedrigsten Niveau, oder wenn
der Arbeitstag „gelaufen“ ist. Dieses auseinanderdividierende „Blockdenken“ –
Arbeit am Stück, Freizeit am Stück – ist zwar ungeheuer rationell; es verstößt aber
gegen alle Gesetze der Biologie.
Der Moderne jammert über Hektik und
Stress im Berufsleben. In seiner Hörigkeit gegenüber dem System akzeptiert er
jedoch die Last und hält sie für unausweichlich. „Moral“ ist für ihn
gleichbedeutend mit „Arbeitsmoral“. Und die verlangt von ihm den
bedingungslosen Einsatz.
Dass jemand, der genug gearbeitet hat,
einfach aufhört und Muße pflegt, kann er sich kaum mehr vorstellen. Derartiges
soll es noch bei den „Muselmanen“ und anderen primitiven Völkern geben, die es
zu nichts bringen. Für ihn gibt es kein „Genug“. Schließlich macht gerade die
Ungenügsamkeit die Dynamik und den Erfolg seines Konsum-Leistungs-Systems aus.
Als dauerproduktiver Spezialist bist
du gezwungen, nur einen Bruchteil deines Organismus extrem zu belasten. Der
Körper rebelliert und sendet Protestsignale aus. Verkrampfte Konzentration und
Überspanntheit führen zu Kopfschmerzen, während der brachliegende Muskelapparat
degeneriert und rheumatisch „versauert“. Die Atmungswege verkrampfen sich und
simulieren den Erstickungstod dessen, der in der Enge keine Luft mehr bekommt.
Die Haut wird hypersensibel und reagiert allergisch gegen alles und jedes. Der
Magen betreibt durch ein Zuviel an Säure „Selbstauflösung“. Er demonstriert,
dass ihm manches Zugemutete nicht gut bekommt.
Die einseitige Überbelastung führt zur
Desorganisation, zum Verlust des Gleichgewichts. Komplizierte Regelmechanismen
geraten außer Kontrolle. Der erhöhte Blutdruck zeigt an, dass der Organismus
unter gefährlichen Druck geraten ist. Das Herz kommt aus dem Rhythmus oder
fühlt bedrohliche Enge; der „Vernichtungsschmerz“ symbolisiert die nackte Angst
ums Überleben. Der Kreislauf bricht zusammen und Zellen wuchern
hemmungslos. Krebs und Aids dokumentieren am erschreckendsten
das kaputte Gleichgewicht, das Versagen der Immunsysteme.
Die psychischen Symptome sind ähnlich.
Sie reichen von Erosionserscheinungen bis zum totalen Zusammenbruch. Der
permanente Kampf gegen das spontane Ich reibt auf und zermürbt. Die innere
Disziplin, sich täglich und stündlich zur immer gleichen, vielleicht verhassten
Tätigkeit aufzuraffen und gerade darin sein Bestes zu leisten, macht verdrossen
und gereizt. Diese Gefühle müssen unter professioneller guter Laune vertuscht
werden. Du musst sie in dich hineinfressen. Sie verursachen jenes chronische
Geschwür, das den harmlosen Namen „Unzufriedenheit“ trägt und von dem kaum ein
Zeitgenosse verschont bleibt.
Die unvermeidliche öde Routine im
Beruf kann auch zu lustloser Resignation führen. Die Depression wurde bekanntlich zur Volkskrankheit. Natürlich geht
nicht alles auf das Konto Beruf. Die
anderen „kulturellen Grundwerte“ – Ehe,
Familie und Nation – mischen fleißig mit an dem bitteren Trank. Aber dem Phantom
Beruf werden vielleicht die größten Opfer gebracht. Man fragt sich, was da
eigentlich „optimiert“ wurde: die Lebensqualität des Modernen oder die heiligen
Kühe der Industriekultur?
Der Mensch hat seine Wege geebnet. Er
lässt Maschinen für sich arbeiten und Computer haben ihm das Denken abgenommen.
Und dennoch leidet keine Tiergattung ähnlich unter Verschleiß und Totalausfall
wie der Homo sapiens fortgeschrittenen Stadiums. Die „Urkrankheiten“ hat er besiegt.
Im Austausch dafür hat er sich hausgemachte „Zivilisationskrankheiten“
eingehandelt.
Der Vergleich mit seinen primitiven
Vorfahren müsste ihn wehmütig stimmen. Von einem Leben ohne Migräne und
Allergien, ohne Fettansatz und Hämorrhoiden, ohne Kreislaufbeschwerden und
Herzinfarkt, ohne nervöse Gereiztheit und depressive Verstimmungen kann er nur
träumen.