Paarungsrituale

 

Neurotisch angehauchter Charakter sucht seinesgleichen: unberührt, schamhaft, ängstlich, gehemmt; narzisstisch, hysterisch, sublimiert, und ideologisiert. Das Paarungsritual des Kulturmenschen gleicht einem Hürdenlauf mit schier unüberwindlichen Schwierigkeitsgraden. Es tritt dabei eine Unbeholfenheit zutage, die du in der Natur nirgendwo wiederfindest. Tiere und Pflanzen, ihr habt es besser!

Es beginnt mit einem unbewussten Ortungssystem. Mädchen oder Jungen, die nicht Typ oder Antityp der frühkindlichen Bezugspersonen sind, scheiden von vornherein aus. Die Eltern betrachten mit Wohlwollen den Auserwählten ihres Kindes, wenn er ihren Vorstellungen entspricht, d. h. wenn er ihnen selbst ähnlich ist. Sie sind enttäuscht, wenn er das genaue und provozierende Gegenteil ihres beweihräucherten Selbstbildnisses darstellt. Der Ödipuskomplex trägt seine Früchte. Wer auf einen vergötterten oder verhassten Typ fixiert ist, hat nur eine begrenzte Auswahl.

Infantile Signale werden ausgesendet: Welcher zärtliche Papi beschützt hilfloses kleines Mädchen? Welches Mädchen mit viel Mütterlichkeit verwöhnt netten kleinen Jungen?

Narziss hält Ausschau nach seinem Ebenbild: Suche Partner zwecks gemeinsamer Interessenpflege und ungetrübter Seelenharmonie. Gleicher Geschmack in Fragen von Kunst und Weltanschauung ist erwünscht.

Koketterie eines Neurotikers: Kaputter Typ – schwierig, aber ausgefallen – sucht jemand, der es mit ihm aushält. Kein Bock auf „heile Welt“! Sich mittels seiner Probleme attraktiv zu machen ist die Masche des Neurotikers. Er nähert sich dem anderen Geschlecht, wenn überhaupt, Verständnis oder Mitleid heischend. Er gleicht dem Froschkönig im Märchen, der darauf hofft, durch den Kuss der Prinzessin erlöst zu werden. Das Mädchen muss nur Mitleid haben, dann wird es erleben, dass hinter dem unansehnlichen Äußeren ein strahlender Traumprinz steckt.

 

Nachdem der richtige Partner geortet ist, geht das Ritual auf labyrinthähnlichen Umwegen weiter. Kein Tier muss seine Brunst so verbrämen wie der Mensch. Sein Verlangen tarnt er mit Scherzen und Komplimenten, unverblümte Annäherung könnte die Angebetete erschrecken. Anstelle von Spontanverhalten herrschen Taktik und Theater, Anlächelkrampf und hysterischer Wortreichtum. Die entscheidenden Worte vermeidest du. Du hast gelernt, dich deiner Gefühle zu schämen. Außerdem ist das Wort „Liebe“ von so viel Idealvorstellungen verklärt, dass du es nicht auszusprechen wagst. Da kommt bestenfalls ein schüchternes „Ich mag dich“ über deine Lippen.

Sind sie sich verbal etwas näher gekommen, muss die nächste Hürde genommen werden, die da heißt „Berührangst“. Händchenhalten, das Symbol der Mutter-Kind-Beziehung, gilt auch als das Wahrzeichen junger Liebe. Händchenhalten ja – aber Hände weg von den Zentren der Lust! Höre, lüsterner Knabe, das Mädchen hat es nicht gern, wenn du an ihrem Busen, Po oder gar zwischen ihren Schenkelchen herumfummelst.

Oralerotik ist erlaubt. Nur, sie wirkt auf den Anfänger wenig berauschend, eher komisch; kann er doch den nach oben verschobenen symbolischen Geschlechtsakt nicht so recht realisieren. Sachte, ungeduldiger Höhlenforscher! Das Mädchen sehnt sich nicht nach deinen tropfenden Stalaktiten – weder nach deiner Zunge noch nach deinem aufgeregten Pimmel.

Endlich ist es soweit. Es gilt, das Tabu Nacktheit zu brechen und die Scham zu überwinden. Wenn sie ihren Körper entblößen, geschieht das selten spielerisch. Es gleicht eher einem Akt feierlicher Denkmalsenthüllung, für manchen eine kalte Dusche. Nicht jeder Busen kann es mit der erträumten Titelblattschönheit aufnehmen. Das behaarte Hügelchen irritiert und macht ebenso ratlos wie der ungewohnte Anblick des männlichen Gliedes.

Das Mädchen hatte von einem großen und starken Mann geträumt, nicht aber von einem großen und starken Penis. Kein Wunder, wenn es vor diesem lustgeschwellten „Etwas“ wie vor einem nackten Dolch erschrickt und wenn das, was es sich als selige Umarmung vorgestellt hatte, in der ängstlich verkrampften Duldung der männlichen Attacke endet. Jungfräulichkeit geht bekanntlich nur selten unter jauchzender Wollust verloren.

Und auch des Jünglings Weg zur höchsten Lust verläuft nicht eben und schnurgerade. Diese brünstigen Knaben sind bestenfalls geübte Onanisten, mehr nicht.

Das Paarungsritual des Kulturmenschen, ist es nun Beweis hoch stehender Moral und erhabener Ideale, oder ist es Ausdruck einer verkorksten Sexualität? Auf jeden Fall ist es mit soviel Bremsklötzen und Fußangeln versehen, dass manche Liebe auf der Strecke bleibt, bevor sie noch richtig begonnen hat. Übersteht sie aber glücklich das Ritual, wartet auf sie eine weitere Falle, „Ehe“ genannt, um ihr endgültig den Garaus zu machen.

 

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