Messias und Moralist

 

Für den Menschen ist die Menschwerdung Gottes natürlich schmeichelhaft, erst recht, wenn der Gottessohn in einem Stall zur Welt kommt. Gott, der mit Allmacht gleichgesetzt wird, arm und schwach als Säugling in einer Krippe: Weihnachten ist das vermutlich genialste Rührstück der Mythengeschichte. Die Assoziation des Gottessohns mit den Armen und Schwachen macht den Erfolg dieses Mythos aus. Auf die »Mühseligen und Beladenen« konzentriert sich die Botschaft des Wanderpredigers aus Nazareth. An die kleinen Leute bis hin zu den gesellschaftlich Geächteten ist sie gerichtet.

Die von Jesus verkündete Moral, sein Gebot der Nächsten- und Feindesliebe könnte man die »Botschaft eines Hyperempathikers« nennen. Empathie auf die Spitze getrieben. Den »Nächsten«, d.h. jedermann zu lieben wie sich selbst, ist ebenso utopisch wie absurd. Eine in Ansätzen positive Grundeinstellung gegenüber dem Zeitgenossen mag noch angehen. Früher oder später differenziert sich jedoch im Zusammenleben diese relativ neutrale Wohlgesonnenheit in ein Spektrum von Einstellungen, die sich nicht mehr unter dem Begriff »Liebe« subsumieren lässt. Nur zu oft und mit Recht sind Abgrenzung und Gegenwehr gegenüber dem »Nächsten« angesagt, Gefühle der Abscheu und Verachtung nicht ausgeschlossen.

Die geforderte Feindesliebe, mit der sich Jesus klar gegen die geoffenbarten Lehren des Alten Testaments – »Auge um Auge, Zahn um Zahn« – abgrenzt, könnte man psychologisch gedeutet einer Aggressionshemmung zuordnen oder bestenfalls dem natürlichen Instinkt, per Unterwerfungsgeste und Demutshaltung – »die Wange hinhalten« – den Konkurrenten oder Feind zu besänftigen. In der Tierwelt funktioniert das auch oft. Da mit einer solchen Einstellung aber keine Staatsreligion zu machen ist, musste die christliche Theologie per »Naturrecht«, dem Recht auf Selbstverteidigung, die gebotene Feindesliebe aushebeln und sie ein paar unverbesserlichen Idealisten, sprich: Pazifisten, überlassen. Eines von vielen Beispielen für den freizügigen Umgang der christlichen Kirchen mit der Lehre ihres Begründers.

»Sehet die Vögel auf dem Felde! Sie säen nicht, sie ernten nicht…« Fast schon rührend naiv und realitätsfern klingt, was Jesus seinen Zuhörern predigt. Das grenzenlose Vertrauen auf den Vater im Himmel hat etwas Kindliches. Nicht umsonst lautet seine Forderung: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…« Ob Jesus die vermeintliche Unschuld der Kinder oder deren arglose Gutgläubigkeit verklärt – es ist ein Plädoyer für die Naivität und verrät, auf wessen Seite er steht. Er verlangt Glauben, Gutgläubigkeit, nicht Nachdenken, kritisches Hinterfragen. Jesus ist Moralist und Heilsbringer, nicht Philosoph. Kritisch ist er nur gegenüber den Pharisäern und Schriftgelehrten und deren formalistischen Fixierung auf das Regelwerk ihrer Heiligen Schriften. Seine Opposition zur hierarchischen Elite wird ihm letztlich zum Verhängnis werden.

In einem Punkt ist Jesus von Nazareth revolutionär, und das dürfte in der Geschichte der transzendentalen Mythen seine herausragende Leistung sein: Er setzt die Nächstenliebe mit der Gottesliebe gleich. Die horizontale Dimension gewinnt gegenüber der vertikalen an Bedeutung. Der direkte Umgang mit Gott, das liturgische Element, wie z.B. die Heiligung des Sabbats, muss zurückstehen, wenn tätiges Eingreifen geboten ist. Sozialverhalten zählt mehr als Regeltreue gegenüber den Ritualen. Diese geänderte Blickrichtung könnte man innerhalb der Mythen als erstes Aufkeimen der Säkularisation deuten. Das Diesseits wird zumindest in der Ausrichtung des praktischen Handelns der Transzendenz gleichgesetzt – ja, fast schon vorgezogen.

Jesus war sich seiner von den Pharisäern als blasphemisch bewerteten »Theologie« vermutlich nicht bewusst. Er predigt aus einem unreflektierten, empathisch geprägten Habitus heraus. In seinem Heilsversprechen ist er noch ganz auf die andere Welt fixiert. »Mein Reich ist nicht von dieser Welt…« Das Ziel seiner Botschaft ist denn auch nicht die soziale Besserstellung der »Mühseligen und Beladenen«, die soziale Gerechtigkeit im Diesseits. Insofern ist er kein Sozialrevolutionär. Das Heil, das er verspricht, liegt im Jenseits. Nicht einmal seine Jünger verstehen das zunächst und setzen ihre Hoffnung auf ihn als einen Messias des Diesseits, der das auserwählte Volk von seinen Unterdrückern befreien und, wie in den Schriften versprochen, zum Sieg über die Feinde führen soll. Sein Scheitern am Kreuz ist für sie die große Ernüchterung und Enttäuschung.

Bei aller Empathie, die ihm zu eigen ist – jenem Jesus von Nazareth mangelt es, wenn man der Überlieferung glauben darf, nicht an Selbstbewusstsein. »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben…« »Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert…« Er kann sehr rigoros sein, wenn es darum geht, ihm nachzufolgen. Dann sollen »die Toten ihre Toten begraben«. Diese ambivalente Mischung aus Empathie und einem Selbstbewusstsein, das sich letztlich zum »messianischen Größenwahn« steigert, macht die Faszination seiner Persönlichkeit aus, Diese Art von »Charisma« hat er mit allen Heilsbringern gemein. Sein Scheitern, sein Tod am Kreuz, den er vorausahnt, darf denn auch nicht das letzte Wort sein. Er muss es »messianisch« umdeuten als Sieg, als Blutopfer und Erlösungstat »zur Vergebung der Sünden«.

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