Künstler, Kunst und Publikum

 

Die Schöpfergötter

 

Sie zählen zu den Göttern der Kultur; es winkt ihnen die Unsterblichkeit. In der Rangfolge der Kulturgüter steht die Kunst ganz oben, gleich nach oder neben der Religion. Das Zeremoniell in Kunst und Religion ist verblüffend ähnlich. Die Künstler zelebrieren Priestern gleich ihre Kunst. Die Masse der Gläubigen lauscht andächtig, schläft oder gerät in hypnotische Trance. Sie darf in eine Welt schauen, die jenseits der banalen Realität liegt.

Heilige Kunst, erlöse uns aus der Trübsal unserer Tage! Der Kunstkritiker deutet das Kunstwerk wie der Theologe die Bibel. Und wenn auch mit manchem Künstler hart ins Gericht gegangen wird, so ist die Gattung „Künstler“ doch durch ein Tabu geheiligt. Man begegnet ihnen mit Ehrfurcht und Bewunderung.

Was hat es mit dem göttlichen Funken der Kreativität auf sich? Warum erschuf Gott die Welt? War es Langeweile oder Spieltrieb? War er mit dem Nichts nicht zufrieden?

Niemand behauptet, dass dein Leben ein „Nichts“ sei. Doch ein bisschen mehr dürfte es schon sein. Den Künstlern sei Dank. Sie lassen ihren schöpferischen Überdruck in das Vakuum ausströmen und schaffen faszinierende „neue Wirklichkeiten“. Mit dem Bazillus ihrer ausschweifenden Phantasie infizieren sie gleichsam die sterile Ordnung und suchen, die Verödung des Planeten Erde und seiner Menschen zu verhindern. Diese Schöpfergötter liegen in einem stetigen Kampf mit dem verkrusteten, leblosen Alltag.

Wer eine lebendigere Welt erschaffen möchte, muss sich rechtzeitig ins Reich der Phantasie retten, auf jene Inseln der Seligen, wo sich Utopisten, Rauschgiftsüchtige und Phantasten aller Art tummeln. Träumen und Spielen sind die Privilegien des Kindes. Wer will es dem Künstler verdenken, dass er, im Kindheitsparadies verharrend, dem öden „Ernst des Lebens“ ausweicht und sich aus der verachteten bürgerlichen Existenz heraushält?

Genormtes Mittelmaß ist kein Nährboden für Phantasie. Sie gedeiht nicht im häuslich familiären Rahmen eines Herrn Biedermann. Wer einmal in die Mühle des zermürbenden Alltags geraten ist, findet kaum mehr den Absprung in die spielerische Phantasie.

Sie sind schon zu beneiden, die Spezialisten für Phantasie. Was der Kleine Mann in der Stunde nach Feierabend genießt – den Rückzug in eine imaginäre Welt – betreibt der Künstler im großen Stil. Befreit von den Zwängen kleinbürgerlicher Moral darf er den Ausbruch aus der Norm wagen. Man gesteht ihm die „künstlerische Freiheit“ zu, mit der Wirklichkeit nach Lust und Laune zu verfahren.

Der Künstler ist nie Realist, auch wenn er es von sich behauptet. Er spielt mit der Wirklichkeit und bastelt so lange an ihr herum, bis sie ihm gefällt. Ein sympathischer Utopist. Er idealisiert oder banalisiert, er dramatisiert oder löst in lyrische Stimmung auf.

Der Künstler sucht den Abstand, nicht die Nähe. Er liebt die Verfremdung, berauscht sich an seiner Fähigkeit, mit artfremden Materialien lebendige Illusion zu vermitteln: Dramatik in Worten, Gefühle in Klängen, Landschaften in Öl, eine Frau in Marmor.

Seine Kunst ist ein erotisches Unterfangen. Überall versucht er einzudringen und sich zu vermischen. Doch der Künstler ist Narziss. Er liebt die Wirklichkeit nicht, wie sie sich ihm bietet, sondern wie er sie gestaltet hat. Sie ist für ihn nur Vorwand, nur „Sujet“. Erst muss er seine eigene Handschrift wiederentdecken, um sich zu begeistern.

Der Künstler liebt nicht sein Modell, sondern die von ihm geschaffene Fassung in Bronze oder Marmor. Er lebt nicht mit den „Banausen“ um ihn herum, sondern mit den Figuren seiner Phantasiewelt. Er pfropft der Wirklichkeit sein Ich auf. Und es ist nur konsequent, wenn moderne Künstler oder Popstars sich als „Kunstwerk“ aufbauen und dem Publikum anbieten. Die Mischung aus Narzissmus, Exhibitionismus und Prostitution bringt das Publikum in hysterische Rage, in Ohnmacht und Verzückung.

Nirgends sind die Grenzen zwischen Schein und Sein, zwischen Illusion und Wirklichkeit so verschwommen wie in der Kunst. Das hat die Künstler zu dem Anspruch verführt, neue „Wirklichkeiten“ zu schaffen. Sie merken nicht oder wollen es nicht wahrhaben, dass ihren Werken immer eine entscheidende Dimension, ein Stück Überzeugungskraft fehlt.

Der Stolz des „Kreativen“ müsste durch diese bittere Tatsache getrübt sein: Er kann seinen Geschöpfen kein wirkliches Leben einhauchen, es sind Totgeburten. Jede schwangere Frau bringt Besseres zustande als der genialste Künstler.

In seiner Welt ist der Künstler ein allmächtiger und allwissender Gott. Er kennt die geheimen Sehnsüchte und Ängste seiner Geschöpfe, bestimmt das Geschehen und führt souverän Regie. Umso ernüchternder muss für ihn der Ausflug in die Wirklichkeit sein. Wenn Poeten oder Sänger sich in politische Aktionen verirren und die gesellschaftlichen Zustände mittels ihrer Kunst „aktiv“ verändern wollen, erleben sie regelmäßig Ohnmacht. Mit der Wirklichkeit in der Phantasie spielen ist etwas anderes, als sie real zu verändern. Selbst der härteste Marmor lässt sich leichter gestalten als die Realität. Da verlieren Worte und Klänge plötzlich ihre magische Macht.

Und außerdem, das Publikum liebt den Sound, nicht den moralisch erhobenen Zeigefinger. Es liebt die bittersüße Droge, nicht das Manifest. Die Zwangsjacke der Ideologie erstickt die Phantasie und gibt der Kunst einen schalen Beigeschmack.

Drum Künstler, bleibt bei euren Leisten! Überlasst das Moralisieren den tristen Ideologen. Seid fröhliche Gaukler, trickreiche Illusionisten. Heilige Kunst, erlöse uns aus der Trübsal unserer Tage!

 

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