Changing identity

 

„Sie erkannten, dass sie nackt waren.“ Der Sündenfall muss wohl sehr früh passiert sein. Selbst die Naturvölker entwickelten, wenn auch nur spärliche Kleidungsstücke, um ihre vermeintliche „Blöße“ zu bedecken. Kultur samt bizarren Riten und Tabus begann schon im tropischen Urwald. Und aller idyllischen Verklärung zum Trotz: Die sogenannten „Naturvölker“ sind weit entfernt von jenem gepriesenen, paradiesisch natürlichen Urzustand.

Als unsere neugierigen Vorväter dann in rauhere Klimazonen auszogen, kam zum Tabu die Notwendigkeit, sich gegen die Kälte zu schützen. Der findige Verstand dieser wanderlustigen Horden war schneller als die Evolution, machte sie überflüssig. Der Mensch schuf sich ein künstlichen Fell und blieb „nackt“. Wie man sieht, es lässt sich auch mit einem von der Evolution aus gesehen „rückständigen“ Erbgut in neuen Räumen und in fortgeschrittenen Zeiten recht gut überleben.

Wir haben uns an unsere „zweite Haut“ gewöhnt, das Gefühl von Textilien ist unserem Körper mehr vertraut als alles andere. Nur selten werfen wir wie in einem Anfall von Protest und Sehnsucht die Kleidungstücke von uns und genießen die Elemente, die Berührung von Luft, Wasser, Sand und Sonne – vielleicht auch unsere Nacktheit. Doch die Ausflüge in die paradiesische Freiheit und Unschuld sind nur exotische Augenblicke in unserem Leben. Tabu und Notwendigkeit holen uns wieder ein.

Kein Zweifel, die Kleidung hat den Zivilisierten elementarer Ausdruckskraft beraubt; denn Kleidung abstrahiert. Gesicht und Sprache haben das Ausdrucksmonopol übernommen. Aus ihnen musst du die Persönlichkeit deines Gegenübers ablesen.

Bekanntlich leben wir in einer Pokerface-Kultur. Deine Mimik ist emotionsneutral, du lässt dir deine Karten nicht anmerken. Wutgrimasse, Zornesröte, Tränen oder gar schmachtende Brunst im Blick passieren dir ebenso wenig wie kräftiges Schulterklopfen oder gerührte Umarmungen.

Auch deine Sprache ist nicht sonderlich ausdrucksstark. Schöne, gefühlvolle Worte gibt es noch in Büchern und auf Büttenpapier; spöttische Bemerkungen und verbale Kraftakte erlauben sich höchstens TV-Serienhelden. Die Umgangssprache – und wer benützt jemals eine andere Sprache – ist genormt, stereotyp und grob gerastert.

Derart zu professioneller Maske erstarrt und auf floskelhafte Redewendungen festgelegt, bist du ein freundlich neutrales Nichts, ein bescheidenes Rädchen im Getriebe. Profilierung ist nicht erwünscht, geschweige denn Provokation.

Es ist nicht schmeichelhaft, ein Nichts zu sein. Als Ausweg aus der Misere bleibt uns nur unsere „Verpackung“. Welch glücklicher Zufall, per Kleidung lässt sich nicht nur Unansehnliches retuschieren; es gibt da auch die Möglichkeit, sein Ich in neuem Glanz erstrahlen zu lassen, es gewissermaßen zu steigern.

Der Trick ist nicht so neu. Schon unsere Vorfahren verstanden es, sich mit fremden Federn zu schmücken und ihren jeweiligen Rang zu bekunden. Und wenn auch die Mächtigen heute in Mode und Auftreten bescheidener geworden sind, die Kleidung rettet letztlich ihren Nimbus. Man stelle sich vor: die derzeitige Prominenz aus Politik, Wirtschaft, Kunst und Kirche – splitternackt zum Gruppenbild vereint. Die Menschheit würde sich biegen vor Lachen. Der Nimbus der Großen würde zerplatzen wie der Luftballon an der Nadelspitze.

Nicht jedem ist es gegeben, in die Elite derer aufzusteigen, die sich an ihren Roben, an Markennamen und modischen Accessoires erkennt. Bleibt dir auch elitäres Prestige versagt, so darfst du doch wenigstens einen „Typ“ darstellen. Die Auswahl ist nicht groß, doch die Standardmodelle sollten genügen: sportlich, lässig oder elegant; rustikal oder von sublimer Ästhetik; kindlich verspielt oder erotisch freizügig; dezent oder provokativ; die Protestler und Aussteiger nicht zu vergessen. Die Mode hat für jeden Typ das Passende. Das macht sie so „individuell“.

„Individuelle Massenmode“, das mag komisch klingen für Leute, die überzüchtete Vorstellungen von Individualität haben oder aufgrund absonderlicher Körpermaße tatsächlich nicht in Konfektionsgrößen passen. Wer keine überzogenen Ansprüche stellt, weiß es zu schätzen, dass man ihm heutzutage so ziemlich alles im „individuellen Zuschnitt“, sozusagen „maßgeschneidert“ anbietet.

Immer nur den gleichen Typ darstellen kann langweilig werden. Die Mode weiß das und schafft Abhilfe. Sie setzt „Trends“, kreiert den jeweils aktuellen „Look“. Anregungen bezieht sie beispielsweise aus Folklore oder attraktiven Berufen. Es ist ein völlig willkürlicher Themenwechsel. Für eine Modesaison darfst du in eine Rolle schlüpfen, die gewiss nichts mit deinem Alltag zu tun hat. Das bringt Farbe und Bewegung in ein ansonsten nivelliertes, etwas eintöniges Leben. Was in anderen Bereichen, in Beruf und Liebe moralisch geächtet ist, die Lust an der Abwechslung, wird in der Mode emphatisch zelebriert. Wenn du nicht mitmachst, riskierst du den Ruf eines „Muffels“.

Man kann es dir nicht verübeln, dass du wenigstens äußerlich die Rollen tauschen möchtest. Vor dem harten Gesetz der Routine und der festgelegten Arrangements gibt es ohnehin kein Entrinnen. Es ist ja nur ein Spiel. Du legst dir den jeweiligen Look zu, ohne dich wirklich zu verändern.

Mode bleibt an der Oberfläche, sie darf nicht verinnerlicht werden. Das läge weder in deinem noch im Interesse der Modeindustrie. Eine neue Saison mit neuen Trends und Looks wartet auf dich. Und wenn es nur neue Materialien, Farben oder Schnittmuster sind – die Mode beweist es: Die Dinge sind in Bewegung. Selbst dein Geschmack ist nicht eindeutig und für alle Zeiten festgelegt.

Das Spiel der Modemacher kann grausam sein, mit einem Hauch Sadismus. Nicht immer werden Weiblichkeit und ihre Reize optimal zur Geltung gebracht. Clownerie mit Schlapperlook und Karos hat in die Mode Einzug gehalten; eine kräftige Dosis „Punk-Hässlichkeit“ setzt neue Akzente, durchbricht die Regeln klassischer Ästhetik.

Der Modekonsument zieht heute willig an, worüber er gestern noch gelacht oder gespottet hat. Ein paar Mal jährlich lässt er sich den Geschmack umkrempeln und folgt dem Diktat derer, die darüber bestimmen, was jeweils „schön“ oder „in“ ist. Soll man ihm deshalb Persönlichkeit absprechen, die sich unter anderem in Selbstbewusstsein und ausgeprägtem Geschmack äußert? Darf man spöttisch behaupten, er habe geradeso viel „Ich“ wie die Schaufensterpuppe, die sich zu jeder Saison Neues überziehen lässt?

Wer kann sich derart arrogante Selbstabgrenzung gegenüber seinen Zeitgenossen leisten? Was bleibt dir anderes übrig, als das zur Pflicht gewordene Gesellschaftsspiel mitzuspielen? Andernfalls würdest du Ausschluss und Lächerlichkeit riskieren.

Konservative Kritiker werden behaupten, dein soziales Bedürfnis „dazuzugehören“ sei in der Massengesellschaft zu infantiler Anhänglichkeit, zur Mitmach- und In-Sein-um-jeden-Preis-Mentalität degeneriert. Sie werden dir den „totalen Identitätsverlust“ einzureden versuchen.

Es gibt immer Leute, die sich mit aller Kraft gegen das Rad der Zeit stemmen, um dann letztlich doch vom Lauf der Dinge überrollt zu werden. Wir leben in einer Massengesellschaft. In der Masse kannst du dir kein eigenes Gesicht, kein eigenbrötlerisches, knorriges Ich leisten. Der Fischschwarm sollte unser Vorbild sein. In der Masse gilt es, gleichzeitig und gleichgerichtet zu reagieren, damit es nicht zu Kollisionen kommt. Die Mode zeigt beispielhaft, dass er möglich ist, der überindividuelle, sensible Konsens der Massen.

Und überhaupt, was heißt hier „Identität“? Das Wort hat heute eine andere Bedeutung. Wir leben nicht mehr in kleinen, abgeschlossenen Räumen. Die im wahrsten Sinn des Wortes „engstirnige“ Blut-und-Boden-Identität hat ausgespielt. Der Horizont ist weiter geworden. Die Zeit der Hinterwäldler und Trachten ist vorbei. Die modische Internationale hat uns aus provinzieller Enge befreit. Individualität und Identität orientieren sich an der größeren Einheit von Raum und Zeit. Wir unternehmen Ausflüge in exotische Länder, in nostalgische Vergangenheit und avantgardistische Zukunft. Das sind Zeichen einer mobilen, flexiblen, weitgespannten Geistigkeit.

Kein Lebewesen wechselt Geschmack und Aussehen so schnell, oft und radikal wie der Homo sapiens der Moderne. Sein Idol ist der Schauspieler, der scheinbar viele Leben lebt. Die Affären, Eskapaden und Rollenwechsel sind es, die wir an unseren Idolen bewundern.

Was heißt hier „Identität“? Ist das Spiel, die heitere Verwandlungslust nicht das Privileg der Götter? Nur der Primitive klebt zäh an seiner Identität. Der geistig Höherentwickelte schlüpft in verschiedene Rollen, erlebt spielerisch in der Phantasie verschiedene Schicksale. Er probiert mal dies, probiert mal jenes.

Man könnte es „floating“ oder „changing identity“ nennen, was uns, die Fortgeschrittenen kennzeichnet. Nicht spröde, graue Eindeutigkeit, gediegen, strapazierbar und unverwüstlich, sondern buntes Schillern, Halbseidenes, Changierendes und Glitzerndes – das ist der Stoff der Zukunft.

 

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