Das Verschwinden der Transzendenz

 

Nach außen war der Siegeszug des Christentums ein glänzender Erfolg. Im Innern jedoch begann ein Zersetzungsprozess. Im Kampf um die wahre Lehre und auch aus Protest gegen das Gebaren der Hierarchie kam es zu Kirchenspaltungen. Denn zur feudalistischen Perversion der Lehre durch Päpste, Kirchenfürsten und sonstige Würdenträger war noch deren moralische Verkommenheit hinzugekommen. Machtintrigen, Völlerei und Mätressentum der Kirchenelite beherrschten die Blütezeit des Christentums, das Mittelalter und die frühe Neuzeit.

Man fragt sich, geschah das noch im naiven Glauben an Jesus und die Vergebung der Sünden oder in zynischer Verachtung seiner Botschaft? Das moralische Versagen der damaligen Kirchenoberen wird heute gern mit dem Begriff »Kirche der Sünder« unter dem Schleier der Barmherzigkeit verborgen. Im Grunde war es nur der eklatante Beweis für den Sieg der »Natur« über die »Übernatur«, in einer exzessiven Form jedoch, die sich gewöhnlich nur die Eliten erlauben.

Am Höhepunkt der Macht angekommen, entstand parallel zu den innerkirchlichen, »protestantischen« Auseinandersetzungen und Abspaltungen Gegenwind von ganz anderer Seite. Die Stichworte dieses neuen Zersetzungsprozesses heißen Säkularisation und Aufklärung. Das Zeitalter der Entdecker, das Aufblühen der Wissenschaften entthronte die übermächtige Theologie und lenkte den Blick auf das Diesseits. Das Interesse der Menschen, oder besser: der geistigen Elite, wandte sich weltlichen Themen zu: der Erforschung der Natur und des Universums. Es gab unendlich viel zu entdecken und zu erklären.

Die Natur wurde Stück um Stück entmystifiziert. An die Stelle transzendentaler Kräfte traten berechenbare Naturgesetze. Mit der Auflösung der mythisch begründeten Ängste vor bislang unerklärlichen Naturphänomenen entstanden ein neues Selbstbewusstsein und ein neues Bild von der Welt. Die biblische Offenbarung verlor den exklusiven Anspruch, Mensch und Welt erklären zu können. Neue Horizonte taten sich auf.

Hinzu kam ein neues philosophisches Interesse. Das »Sapere aude der Aufklärung, das »Wage, zu denken, dich deines Verstandes zu bedienen…« musste den Hütern der biblischen Texte wie ein zweiter Sündenfall vorkommen. Kritisches Denken contra naives Glauben – das bedeutete einen Schritt weiter in Richtung Emanzipation des Menschen aus der Abhängigkeit von autoritär und per Offenbarung verkündeten »Wahrheiten«. Die Aufklärung nannte dies den »Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (I. Kant). Aus Sicht der Evolution trifft das die Sachlage nur bedingt. Denn »selbstverschuldet« war und ist die Unmündigkeit des Menschen nicht grundsätzlich. Das glaubensbetonte mythische Weltbild beruht auf einer naiv kindlichen Einstellung, herrührend aus der Frühgeschichte der Menschheit. Die Unmündigkeit eines Kindes ist zunächst normal und unvermeidlich, nicht selbstverschuldet. Sie wird dies erst, wenn der heranwachsende Mensch die Chance zum kritischen Mündig-Werden bekommt und sie verspielt.

Die unendlich lange währende Evolution des menschlichen Bewusstseins innerhalb der Kulturgeschichte von einem frühgeschichtlichen, naiven in Richtung eines kritischen, mündigen Bewusstseins war der Aufklärung noch relativ fremd. Man dachte damals nicht in den gewaltigen Zeiträumen der Evolution, hatte vermutlich nur die Hochkulturen im Blick. Auch mit dem Phänomen der Ungleichzeitigkeit, des unterschiedlich entwickelten individuellen Bewusstseins innerhalb einer Gesellschaft – hier naiv Gläubige, dort kritisch Hinterfragende – konnten die Vordenker nicht viel anfangen. Sie postulierten den Gleichstand, das gleiche Bewusstseinsniveau, und setzten dabei einseitig auf das Instrument Vernunft, wenig ahnend von der Macht des »unvernünftigen« Unbewussten und der Mechanik menschlicher Denkweisen und Entscheidungen. 

Gegen den Widerstand der christlichen Kirchen färbte von all diesen neuen Aktivitäten und Tendenzen etwas auf das Bewusstsein der Menschen ab und setzte einen Prozess in Gang, der längst nicht abgeschlossen ist und etwas Entscheidendes zur Folge hat. Mit zunehmender Säkularisation und Aufklärung, mit dem Wandel der Blickrichtung vom Jenseits auf das Diesseits verschwindet unmerklich die Transzendenz aus dem Bewusstsein. Vorbei die Blütezeit der »mystischen Gotteserfahrungen«, des »direkten Drahtes« der religiös Verzückten zu ihrem Gott.

Und selbst innerhalb der Kirche wird inzwischen die transzendentale Prämisse der Heiligen Schriften, ihr Offenbarungscharakter, infrage gestellt: Sind die biblischen Aussagen tatsächlich so originär und einmalig, wie man von göttlichen Offenbarungen erwarten sollte? Und darf oder muss man sie, wie über Jahrhunderte gefordert, überhaupt wörtlich nehmen?

Die Theologen haben seit einiger Zeit begonnen, Altes und Neues Testament »historisch-kritisch« zu untersuchen, den historischen Kern von den Legenden zu trennen, die Zusammenhänge mit den Mythen zeitlich paralleler Kulturen zu entdecken. Gleichsam hinter vorgehaltener Hand entzaubern sie die Wunderberichte des Neuen Testaments inklusive Auferstehungsgeschichte. Man spricht von »orientalischer Erzählweise«, die niemals wörtlich gemeint sei. Und fast unmerklich wird aus Jesus von Nazareth, dem »Gottessohn«, eine Art »Vorbildmensch«.

Diese allesamt säkularen Tendenzen, die den Glauben an eine direkte Offenbarung und ein übernatürliches, göttliches Wirken unterminieren, werden von den offiziellen Glaubenshütern der katholischen Kirche natürlich vehement als moderne Ketzerei verdammt. Die Einordnung des Christentums in eine Reihe mit historisch vergleichbaren Konkurrenzmythen und die Idee ihrer Gleichwertigkeit gelten als verderblicher »Relativismus«. Die »Wahrheit« kann und darf in deren Denkungsart nur ein Gesicht haben. Und, sie muss für alle Zeiten und alle Menschen gültig sein.

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