Gläubige – Von »naiv« bis »aufgeklärt«
Das
Christentum hat es schon lange nicht mehr mit einer homogenen Masse von
Gläubigen zu tun. Das Spektrum des Glaubens reicht von naiv bis kritisch, von fundamentalistisch bis aufgeklärt. Jedoch allen Gläubigen gemein
ist eine im Bewusstsein fast vergessene, aber folgenschwere Tatsache: Sie
wurden als Säuglinge in ihren Glauben ungefragt »hineingetauft«. Die Taufpaten
schworen für sie, dem Satan zu widerstehen, der Kirche die Treue zu halten und
deren Anweisungen Folge zu leisten.
Die frühe Inbesitznahme gehört zum Instrumentarium
eines jeden Mythos. An wichtigen Entwicklungspunkten wie Pubertät und Eintritt
ins Erwachsenenalter wird der »Taufbund« erneuert, im Christentum per
Erstkommunion, Firmung oder Konfirmation. Regelmäßig wiederholte Rituale, ein
durch religiöse Feste strukturierter Jahreskalender – das alles untermauert den
Prozess der Gewöhnung. Gewöhnung ist ein schleichendes, aber wirksames Gift
gegen den Zweifel. Was man gewohnt ist, erscheint selbstverständlich, »versteht
sich von selbst«, muss nicht infrage gestellt werden. Durch Gewöhnung und
Selbstverständlichkeit ist der Glaube beinahe perfekt gegen Anfeindungen aller
Art immunisiert.
Die Masse der eingeschriebenen Gläubigen dürfte ihren
Glauben unreflektiert beibehalten, oft auch aus sentimentaler Anhänglichkeit
oder vagen Restängsten vor der Verdammnis und mit der ebenso vagen Hoffnung auf
ein Weiterleben nach dem Tod. Ihr Sündenbewusstsein ist nicht übermäßig
ausgeprägt. Ein schlechtes Gewissen bereiten ihnen bestenfalls Umweltsünden und
eine ungesunde Lebensweise. Zur Beichte gehen sie nur ungern oder gar nicht.
Der Herr wird schon Verständnis haben für ihre bescheidenen Sünden wider das
sechste Gebot und für ihre Unlust, zu beten und jeden Sonntag die Heilige Messe
zu besuchen, wo der Pfarrer auf eine ständig abnehmende, wie in schläfriger
Trance wirkende Gemeinde herunterschaut. Praktizierende Christen? Sie sind
weder von »religiösen Erfahrungen« ergriffen noch von einem »religiösen
Bedürfnis« getrieben. Ihr Leben unterscheidet sich kaum von dem eines
Nichtgläubigen.
Es soll nicht geleugnet werden: Es gibt sie auch, die
wahrhaft Gläubigen, überzeugt und emotional angerührt von der Botschaft des
Jesus, naive Jünger des Mythos, Idealisten und »Gutmenschen«. Ob sie ihr
soziales Engagement auch unter einem anderen als dem religiösen Banner ausüben
könnten, diese Frage stellt sich ihnen nicht. Für sie gilt als Orientierung
uneingeschränkt die Bibel, das »Wort Gottes«, erhaben über jeden Zweifel. Sie
wissen sich von Gott durch die »Gnade des Glaubens« auserwählt. Und sie halten
sich an jenen Ausspruch ihres Erlösers: »Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder…«.
Kindliche Gutgläubigkeit als verabreichtes Antidot
gegen kritische Reflexion. Doch ein Problem bleibt. Der Kampf gegen den Zweifel
verlangt einen Schutzwall gegen die verstörenden Realitäten der Welt.
Erfahrungen, die dem Glauben widersprechen, müssen ausgeblendet oder verdrängt
werden. Der kindlich Naive praktiziert einen Wunsch- und Angstglauben, nicht
einen Erfahrungsglauben. Was er sich wünscht, wovor er sich ängstigt, zählt
mehr als das, was er erlebt und was ihn zum Nachdenken reizen müsste.
Widersprüche und Ungereimtheiten, wie den »Gott der Liebe« angesichts der
Existenz des Bösen oder des menschlichen Leids, betrachtet er als »Geheimnisse
des Glaubens«.
Was die Masse der trägen, unreflektierten Gläubigen
monoton als »apostolisches Glaubensbekenntnis« herunterbetet und nicht mehr
wirklich realisiert – von der Jungfrauengeburt bis zur Auferstehung der Toten –
davon ist er fest überzeugt. Er steht noch zu den Fundamenten seines Glaubens.
Und manch einer von ihnen gerät in jene Denkungsart, die man mit berechtigtem
Argwohn als »Fundamentalismus« bezeichnet. Vom Fundamentalismus zum Fanatismus
ist der Weg nicht weit. Im modernen Christentum geschieht eine derartige
Radikalisierung zum Glück noch relativ selten.
Auf den klassischen Typus des kindlich naiven Gläubigen setzt die katholische Kirche, wenn sie
ihre Hoffnung auf Kontinente richtet, wo noch angeblich »vitale Frömmigkeit und
Religiosität« herrschen. Lateinamerika mit der statistisch überwältigenden
Mehrzahl ihrer Gläubigen und Afrika, der Kontinent der Zukunft, sollen es
richten. Die Chancen stehen dort dank eines im Vergleich zu Europa »retardierten«,
magisch-mythischen Bewusstseins nicht schlecht.
Die Kirche muss allerdings in Kauf nehmen, dass der
Glaube in jenen Breiten nur zu oft mit den traditionellen indigenen Kulten
synkretistisch vermischt und dass wenig Wert auf die Reinheit der Lehre gelegt
wird. Entsprechend ihrem Temperament wechseln die Gläubigen auch gerne zur
emotional ansprechenderen Konkurrenz wie den Pfingstkirchen, zusätzlich
motiviert durch Gaben oder das Versprechen, als gläubiges Mitglied zu dem
verdienten Lohn im Diesseits, zu Erfolg und Reichtum zu gelangen.
Ein Großteil der Gläubigen hierzulande ist jedoch
nachdenklicher, widerspenstiger geworden. Es sind dies die kritischen Katholiken, die sich an ihrer Amtskirche reiben. Die
moralischen Vergehen der Vergangenheit sind zwar vergessen und vergeben; doch
schon tut sich mit den Verfehlungen pädophiler Priester ein nicht für möglich
gehaltener Abgrund auf. Skandale häufen sich, die man nur schwer mit dem Slogan
der »Kirche der Sünder« entschuldigen kann.
Neben der moralischen Entrüstung ist es der Frust
über das starre Festhalten der Kirche an alten Traditionen und
Moralvorstellungen. Die katholische Sexualmoral – Stichworte: vorehelicher Sex,
Verhütung, Abtreibung und der Umgang mit Geschiedenen und Homosexuellen – wird
nicht mehr akzeptiert. Man hofft auf mehr Rechte für die Frauen in punkto
Priesteramt und erwartet die Abschaffung des Zölibats. »Moderner«, angepasster
an die Neuzeit soll die Kirche werden. Für manchen ist die Enttäuschung über
Skandale und konservative Haltung der Kirchenoberen Grund genug, aus der Kirche
auszutreten.
Nur wenige wagen einen Schritt weiter von der eher
vordergründigen Kirchenkritik zur Kritik an den Fundamenten des Glaubens. Meist
reicht es gerade noch zum Zweifel an besonders kuriosen Dogmen oder
Glaubenswahrheiten wie der »Jungfrauengeburt«, der »leiblichen Aufnahme Mariens
in den Himmel« und der »Unfehlbarkeit des Papstes«. Theologen, die solche
Zweifel anmelden, wird die Lehrerlaubnis entzogen, was sie oft nicht hindert,
Mitglieder ihrer Kirche zu bleiben, in der vagen Hoffnung, ein Hauch
»Aufklärung« würde eines Tages durch die alten Gemäuer ziehen, der Mythos würde
wieder zeitgemäß und in modernem Gewande neu erstrahlen.
Sie nennen sich »aufgeklärte Christen«, nicht
realisierend, dass Aufklärung und Glaube einen Widerspruch per se
darstellen. In den Glaubensinhalten und der liturgischen Praxis haben sie sich
von der Kirche entfernt. Die »Eucharistiefeier« bedeutet für sie Erinnerung und
Gemeinschaft, kein blutiges Geschehen mehr am Altar. Prozessionen und
Bittgebete sind nicht ihre Sache; wissen sie doch, dass der Lauf der Dinge
unbeirrt von dem Eingreifen des Schöpfers vor sich geht. Sie verzichten auf das
»Gespräch« mit ihrem Gott, konzentrieren sich nicht auf mystische, religiöse
Erfahrungen, sondern auf das praktische Engagement im Hier und Jetzt. Längst
haben sie die christliche Lehre auf soziales Handeln, auf Umweltschutz und
fairen Umgang mit der Dritten Welt reduziert. Nicht wenige von ihnen verzichten
auf die Vorstellung eines personalen Gottes. Sie sind gänzlich im Diesseits
angekommen.
Diese aufgeklärten Christen könnte man auch »säkulare
Christen« nennen. Sie haben ihr Christ-Sein für sich jenseits kirchlicher Lehre
und Moral neu definiert. Obwohl sie in vielerlei Hinsicht längst »draußen«
sind, wollen sie doch weiterhin dazugehören, sich »Christen« nennen. Nichts
scheint schwerer zu fallen, als aus dem Schatten der eigenen Geschichte
herauszutreten und einen sauberen Schnitt zu setzen.
Weiter abseits, aber immer noch irgendwie dem Mythos
verbunden sind die kirchenfernen
Gläubigen. Sie huldigen einem Glauben ohne Institution, individualistisch,
entsprechend ihren Bedürfnissen. Sie bedienen sich der Glaubenswahrheiten, die
ihnen zusagen, und betreiben bisweilen einen synkretistischen Mix mit
spirituellen Angeboten diverser anderer Mythen. Ihre Kommunikation mit dem
»Göttlichen« ist oft esoterisch angehaucht. Sie scheuen nicht Rückgriffe auf
vorchristliche, magische Praktiken. Die Welt der transzendentalen Mythen
bekommt immer wieder neuen, kuriosen Zuwachs.
Und schließlich gibt es noch jene ebenso vorsichtigen
wie cleveren Gläubigen, die nichts
falsch machen möchten. Als Trumpfkarte gegenüber einem glaubenskritischen
Skeptizismus ziehen sie die Pascal'sche Wette aus dem Ärmel, nach dem Motto:
»Glauben kann auf keinen Fall schaden«; wer glaubt, ist immer auf der richtigen
Seite, auf der Gewinnerspur; ob so oder so, er hat nichts zu verlieren. Es ist
die Wette eines logisch denkenden Mathematikers, gewappnet für den Fall, dass
doch »etwas dran« sein sollte, an Gott und dem Jenseits.
Ob sich der Gott dieser klugen Taktiker wohl »im Falle
des Falles« mit einer derart opportunistischen Denkweise zufrieden gibt? Womöglich
wirft er ihnen »am Tag des Gerichts« vor, ihren Fragen und Zweifeln nicht
nachgegangen zu sein? Vielleicht wäre ihm ein ehrlich Zweifelnder, ein empörter
Verneiner lieber als ein schlauer Jasager? Vielleicht wird er ihn fragen:
»Warum hast du es dir bequem gemacht und wider deinen Instinkt, dein innerstes
Gefühl geglaubt? Warum hast du nicht einmal den Versuch unternommen, diese
Welt, ihre Widersprüchlichkeit zu begreifen? Wozu habe ich dir deine Erfahrungen,
Empfindungen und deinen Verstand gegeben?« Womöglich
wird es am »Jüngsten Tag« heißen: »Selig die Fragenden, die Zweifelnden, die
Empörten, denn sie haben sich an der Wirklichkeit gerieben und auf billigen
Trost verzichtet…«?