Problemlöser – oder – Wege zum Glück
Drogen und Tranquilizer
Das System scheint perfekt, das
Angebot komplett. Das Leben als Zuschauer und Konsument dürfte kaum Wünsche
offen lassen. Um so unerklärlicher muss dem naiven Betrachter
das paradoxe Nebeneinander von Wohlstand und Unzufriedenheit, von hohem
Lebensstandard und niedriger Lebenslust erscheinen.
Manchen trifft es in der Mitte des
Lebens, dieses ungute Gefühl, mittlerweile als „Midlifecrisis“ bekannt. Da hast
du nun alles mitgemacht, was man von dir erwartet. Im Beruf hast du dein Bestes
geleistet, in Ehe und Familie hast du dir redlich Mühe gegeben, obwohl es nicht
immer leicht war. Und den politisch engagierten Staatsbürger hast du auch noch
gespielt. Deinen Feierabend genießt du vor dem Fernsehapparat, und als
Konsument lässt du dich nicht lumpen. Doch plötzlich hängt dir das Ganze zum
Hals heraus, am liebsten würdest du alles hinschmeißen.
Es muss wohl nach frühkindlichem Trotzkopfstadium
und pubertären Flegeljahren die dritte Trotzphase sein, die dich so störrisch
werden lässt. Früher warst du noch relativ ahnungslos, hast geglaubt und dem
Druck von außen nachgegeben. Jetzt blickst du auf einen Fundus von Erfahrungen
zurück und das Glauben fällt dir schwerer.
Du liebäugelst mit dem „Ausstieg“.
Aussteigen wohin? Es hat sich herumgesprochen, das Platzangebot an unberührten
Südseeparadiesen ist begrenzt. Die Zivilisation holt dich überall ein. Die
geordneten Verhältnisse gegen eine ominöse „Freiheit“ einzutauschen ist ein
riskantes Unterfangen. Der Ausstieg aus Ehe und anderen Arrangements kann
teuer, ja unbezahlbar werden. „Ausstieg“, das klingt nach einem phantastisch
irrealen, wenn auch schönen Traum.
Was ist der Grund für diese innere
Unruhe, diese Mischung aus Trotz und Überdruss? Wehrt sich nach so vielen
Jahren der Geduld immer noch der „alte Mensch“ mit Rudimenten aus
vorkultureller Zeit gegen Vernunft und Ordnung? Erzeugt der Normendruck eine
Art psychischen Gegendruck, der sich in aggressiver Gereiztheit offenbart? Wandelt
sich naive Lebenslust unter der Strafandrohung des implantierten Gewissens in
diffuse Lebensangst? Schleicht sich angesichts der hoffnungslos festgefahrenen
Situation depressive Lustlosigkeit ein?
Das Problem ist nicht so neu. Frühere
Kulturen erlaubten dem Menschen, um ihm sein Los zu erleichtern, wenigstens
zeitweise den Ausbruch aus Normen und Moral. Man feierte dionysische und
ähnliche Orgien.
Die Moderne lässt die Zügel der Moral
bekanntlich lockerer, in der Hoffnung, dass die Vernunft das Mehr an verführerischer
Freiheit kompensiere. Und schließlich feiert man noch Fastnacht, den schwachen
Abklatsch alter dionysischer Riten. Doch orgiastische Freiheit kann nicht die
Lösung der Probleme sein. Und, würde man die Zügel allzu oft locker lassen, die
Rückkehr zur genormten Moral dürfte von Mal zu Mal schwerer fallen.
Kultur bevorzugt seit jeher einen
anderen Weg in die Glückseligkeit. Er verläuft in dem schmalen Grenzbereich
zwischen verboten und erlaubt. Es ist die Droge.
Bei seiner rastlosen Suche nach Erlösung fand der Mensch immer wieder Pflanzen,
durch deren Genuss er der rauhen Wirklichkeit entrückt und in selige Gefilde
entführt wurde. In Abwandlung seines Zitats könnte man mit dem Naturpfarrer
sagen: „Unser Herrgott hat für jede Kultur ein rauschgifthaltiges Pflänzlein
wachsen lassen.“
Diese Geschenke der Natur haben die
wundersame Eigenschaft, zu betäuben oder zu berauschen. Sie führen in ruhige
Gelassenheit oder in euphorische Hochstimmung. Beides bedarf der Bürger der
Moderne nicht minder als der „Primitive“. Die Hektik des modernen Lebens lässt
ihn nicht zur Ruhe kommen. Seine Nerven spielen verrückt, er kann weder
schlafen noch abschalten. Eine Unzahl von stimulierenden Reizen prallt auf ihn
ein. Er darf sie niemals wirklich, d.
h. außerhalb der Phantasie ausagieren. Das Leben zieht appetitlich garniert an
ihm, dem Zuschauer, vorbei. Das ist wie Lesen im Kochbuch, ohne jemals selbst
kochen zu dürfen. Das kann nervös und traurig stimmen.
Die Lasten des Modernen sind sublimer
als die des Indios aus den Anden, seine „Drogen“ ebenfalls. „Glückspillen“
nennt sie der Volksmund; „Tranquilizer“, „Antidepressiva“ oder ganz allgemein
„Psychopharmaka“ ist ihr wissenschaftlicher Name.
Der Bürger der Moderne trinkt weder
Kava noch raucht er Opium oder kaut Cocablätter. Und wenn er zu seinem
Tranquilizer greift, wird er den Vergleich mit dem betelkauenden Eingeborenen
entrüstet von sich weisen. Auf Hasch, Heroin und Kokain reagiert er verschreckt
und hysterisch. Die „Droge“ ist für ihn ein Reizwort; damit möchte er nichts zu
tun haben.
Seine Drogen sind nicht „Rauschgifte“,
sondern „Medikamente“. Es sind hochkomplizierte chemische Substanzen,
synthetisch hergestellt und aufs Milligramm genau dosiert. Man bekommt von
ihnen keine so hässlich roten Zähne wie die Betelkauer; die
Entzugserscheinungen, wenn die Pillen einmal ausgegangen sind, stellen sich
nicht so dramatisch dar wie beim Drogenabhängigen. Aber – die „Patienten“ geben
es ehrlich zu – so richtig arbeiten, lieben oder schlafen können sie nur, wenn
sie ihr „Medikament“ eingenommen haben.
In den bescheidenen Anfängen der
Tranquilizer bekamen die Patienten ihr Medikament noch ohne Verpackung und
Beipackzettel. Man wollte sie vor der Kenntnis ihrer psychischen Störungen, die
damals noch als beschämend galten, bewahren und ihre Selbsteinschätzung als
„psychisch normale“ Zeitgenossen retten. Heute darf der Patient genüsslich
Zusammensetzung und Wirkmechanismus seines Präparates studieren.
Staunend erfährt er, dass schädliche
Reize auf dem Weg zu Herz und Magen abgeblockt werden und dass er gleichsam
durch einen Schutzschild gegen gefährliche Einflüsse von außen und innen gefeit
ist. Es erfüllt ihn mit neuer Zuversicht zu wissen, dass diese unscheinbaren
kleinen Tabletten seine psychischen Spannungszustände, wie immer sie gefärbt
sind, in ruhige Gelassenheit auflösen. Von allerlei Hemmungen und Ängsten
befreit, wird er zu neuer Schaffenskraft und Liebeslust geführt. Und –
Traurigkeit ade! – seine depressive Psyche wird mit neuem Frohsinn aufgefüllt
oder wenigstens „aufgehellt“.
Die Terminologie der Beipackzettel ist
von nüchterner Wissenschaftlichkeit und wohlwollendem Understatement geprägt.
Man vermeidet eine Ausdrucksweise, die den Patienten – oder sollen wir ihn
„Konsument“ nennen? – erschrecken oder beschämen könnte. Das klassische
Wirkungsspektrum der Drogen, von der Betäubung bis zur rauschhaften Euphorie,
ist kaum mehr herauszulesen. „Reizblockade“ und „Dämpfung der Erregbarkeit“ hat
scheinbar nichts mit „Betäubung“ zu tun, „psychische Aufhellung“ klingt
seriöser als „Berauschung“.
Tranquilizer und Antidepressiva sind
gesellschaftsfähig geworden. Man braucht sich ihrer nicht zu schämen, weiß man
sich doch in bester und zahlreicher Gesellschaft. Kein Zweifel, sie sind ein
Tribut an die Hektik unserer Tage – ein Beweis dafür, dass man sich den
gestellten Anforderungen nicht entzieht. Sie sind Tapferkeitsmedaille für
heroischen Einsatz und unerschütterliche Gefolgstreue. Zudem weisen sie auf
eine tragische Sensibilität hin.
Gewiss, die alten klassischen Drogen
sind besser als ihr Ruf. Sie wurden nicht bis zur Selbstzerstörung genossen.
Man erlaubte den maßvollen Gebrauch, sozusagen das „Küsschen in Ehren“, das
niemand zu Schaden bringt. Dennoch, die Drogen der Moderne, „Psychopharmaka“
genannt, üben ihre stabilisierende, systemerhaltende Funktion besser aus als
die herkömmlichen Drogen. Sie glätten alle Wogen unterschwelliger Erregung und
bauen einen schützenden Damm um die überforderte Psyche auf. Sie sind eine Art
„künstliches Fell“ für die Seele, die in eine rauhere
Zeit geraten, aber nackt geblieben ist.
Das Psychopharmakon schießt nicht
übers Ziel. Es entspannt, ohne zu lässigem Selbstbewusstsein zu verführen; es
befreit von Ängsten, ohne mutig zu machen. Es löst Hemmungen, ohne Lüsternheit
zu wecken; es vertreibt die Trauer, ohne überschäumende Lebenslust einzuimpfen.
Das Psychopharmakon bringt
Bedürfnisse, Gefühle und Selbstbewusstsein des Konsumenten auf den genormten Pegel
gedämpften Mittelmaßes. Es ist das geniale Mittel der Anpassung, es verhindert
den Totalausfall und die Revolte. Der „ruhiggestellte“ Bürger der
Industriekultur befindet sich in der idealen Ausgangslage für das Angebot
an Leben, das ihn erwartet. Er ist bereit, den täglichen Opfergang ohne Murren
anzutreten und sich beinahe frohgemut in diese Art von Leben zu stürzen.