Wider die Pessimisten

 

Das neue Traumpaar „Natur und Technik“

 

Der Glaube an den Fortschritt der Menschheit ist nicht ungetrübt. Ein Heer von Skeptikern, Zweiflern und düsteren Pessimisten zeichnet mit Wonne apokalyptische Endzeitvisionen. Ich habe keine Lust, in die schauerlichen Kassandrarufe derer einzustimmen, die in heimlicher Todessehnsucht wie hypnotisiert auf das schreckliche Ende warten oder es herbeisehnen. Das pathetische Gebräu aus finsteren Drohungen, frommen Appellen und erlösenden Hoffnungen – diese mittelalterlichen Himmel- und Höllepredigten – seien den Propheten und Heilsbringern überlassen! Es gibt derer zur Genüge.

Die pessimistischen Zukunftsvisionen sind nicht neu. Immer gab es Kleinmütige und Verzagte, die aus Angst vor den Risiken des Fortschritts dessen Chancen übersahen oder negierten. Ob das nun Faustkeil, Schießpulver, Atomenergie, Weltraumfahrt oder Genmanipulation ist – jeden „Grenzübertritt“ des forschenden Menschen ächten sie als Sakrileg. In einer gewissen Naivität fordern sie regelmäßig den „Stopp“. Als sei die Evolution eine Maschine, die man beliebig anhalten und zum Stillstand bringen könnte.

Verbergen sich hinter der Zukunftsverweigerung nicht auch arrogante Selbstüberschätzung und eine Art „eifersüchtiger Neid“ auf eine Zukunftsgeneration, die der gegenwärtigen überlegen sein könnte? Glauben oder hoffen sie nicht insgeheim, der Homo sapiens – vielleicht die gesamte Evolution – sei an einem Endpunkt angekommen? Wie anders könnten sie sich die Illusion erhalten, „Ziel“ und „Krone der Schöpfung“ zu sein.

Mehr noch. Mancher von ihnen fürchtet, die Menschheit habe ihren Höhepunkt schon überschritten und werde dank ihres überdimensionierten, wildgewordenen Intellekts in den Strudel des Verderbens gerissen. Wie einst die Dinosaurier an ihrer Körpergröße ausstarben, so werde der Mensch an seiner „Geistesgröße“, an einer Exzessivbildung des Gehirns zugrunde gehen.

Nicht wenige vermuten in Anlehnung an den Mythos vom Sündenfall und von der Vertreibung aus dem Paradies, das erwachende Selbstbewusstsein des Menschen sei der Anfang vom Ende gewesen. Unbewusst wünschen sie sich, der Mensch wäre im prähominiden,paradiesischen“ Stadium der Tiere verharrt. Im Grunde können sie mit der Evolution, die nun einmal in Richtung Geist und Bewusstheit weist, nichts anfangen.

Mit nostalgisch verklärtem Glanz in den Augen blicken sie zurück in die Vergangenheit und suchen nach einem Stückchen von böser Menschenhand unberührter Natur. In der Natur sehen sie die Idylle, das ungetrübte Paradies. Kultur ist für sie gleichbedeutend mit Hochmut, Größenwahn und Sünde.

Würden diese Kulturpessimisten nur einmal genauer hinschauen, was sich in der Natur abspielt an Schönem und Grausamem, an Rührendem und Entsetzlichem, an Faszinierendem und Abstoßendem, an Großartigem und Banalem! Sie wären vorsichtiger mit der Verdammung der Kultur. Vielleicht sogar würden sie begreifen, dass „Kultur“ nur Abbild von „Natur“, Fortsetzung auf einem „geistigeren Niveau“ ist. Der Mensch ist kein bisschen besser oder schlechter als die Natur. Der Mensch ist Natur! Er repräsentiert die Natur und ihre Evolution. Mit seinen Füßen reicht er in die prähominide Vergangenheit, mit seinem Kopf in eine unbekannte, vielleicht posthominide Zukunft.

Die idyllisierende Verklärung der Natur hat etwas Einfältiges. Sie verrät weder Scharfblick noch Tiefgang. Und so treibt denn auch die illusionäre Selbsttäuschung über die „neue Natürlichkeit“ phantastische Blüten. Herr Jedermann fühlt sich im Einklang mit der Natur, wenn er sich von der Kraft des vollen Kornes ernährt, wenn ungebleichter Zucker, rechtsdrehende Milchsäure und reichlich Kleie auf seinem Speiseplan stehen. Und wenn er regelmäßig seine Kräutertees schlürft.

Die Verkünder der „neuen Natürlichkeit“ merken nicht, dass sie längst perfekt vermarktet werden. „Bio“ ist „in“. Biologische Zusätze werden allen möglichen Konsumgütern als Gütesiegel angehängt. Naturbegeisterung, Umweltschutz und Ökologie bleiben wie die meisten „Bewegungen“ an der Oberfläche. Es ist das alte Spiel um Ablenkung und vordergründiges Alibi-Engagement. Über die biochemischen Problembereiche reicht der Horizont nicht hinaus. Als sei der Mensch eine chemisch-physikalische Apparatur und das Leben nichts weiter als eine Kette von biochemischen Reaktionen.

Es ist schon rührend anzusehen. Sie wehren sich gegen Waschmittel, Chemie und synthetische Produkte, derweil sie mit synthetischen Erlebnissen, mit „künstlichem Dünger“ für die Phantasie abgespeist werden. Sie kritisieren die Flurbereinigung, die Monokultur und das Aussterben der Arten, derweil sie als Spezialisten zwecks verbesserter Produktivität an sich selbst eifrig „Monokultur“ betreiben und alles ausrotten, was ihren Hauptfunktionen Leistung und Konsum im Wege steht.

Sie befürchten lebensbedrohende Klimaveränderungen auf dem Planeten Erde durch die Ausbeutung der Urwälder und den steigenden Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre und bemerken nicht die anbrechende „Eiszeit“ in den menschlichen Beziehungen. Sie protestieren gegen den sauren Regen der Industrie und gegen das Waldsterben, derweil sie sich geduldig vom „sauren Regen“ der Ideologien und deren Moral berieseln lassen und es akzeptieren, dass weite Teile ihres Ichs „absterben“.

Natürlich steckt hinter dem neuen Mitleid mit der zerstörten Umwelt pures Selbstmitleid – die nackte Angst, die Natur könnte sich an ihrem Peiniger rächen. „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch!“ Dieser Slogan, der Überlebensängste weckt, hat die Natur ins Bewusstsein des Modernen gerückt – nicht etwa ein neu entdecktes Solidargefühl.

Der Mensch hat die alte anthropozentrische Denkweise nie aufgegeben. Für ihn ist die Natur „Umwelt“, d. h. Welt „um den Menschen“. Die zerstörte Umwelt kümmert ihn nur insoweit, als sie bedrohliche Rückwirkungen auf ihn haben könnte. Es tut uns nicht weh, wenn ein Teil der Natur aufgibt und ausstirbt. Entsetzen packt uns erst, wenn wir DDT in der Muttermilch oder Dioxin im Trinkwasser entdecken. Dann stimmen wir das große Lamento gegen Chemie und Industrie an.

Trotz aller Risiken, die der Fortschritt in sich birgt – es gibt keinen Grund, ein neues Konzept zu entwickeln. Was so erfolgreich ist, kann nicht falsch sein. Es bleibt dabei: soviel Zukunft, sprich: „Technik“, wie möglich – soviel Vergangenheit, sprich: „Natur“, wie unbedingt nötig.

Was niemand zu hoffen gewagt hatte, ist eingetreten. Natur und Technik haben sich versöhnt, sie scheinen das „Traumpaar der Zukunft“ zu werden. Die neuen Biotechniken, „Bionik“ genannt, dürften die letzten Reste eines schlechten Gewissens gegenüber der Natur beseitigen. Sind sie doch Beweis einer harmonischen Partnerschaft zwischen ehemals unversöhnlichen Rivalen. Symbiose statt Ausbeutung.

Die „böse“ Industrie hat längst Buße und Besserung versprochen. Sie bevorzugt die „sauberen“ Zukunftstechnologien, sie baut Filter und Kläranlagen. Die Moderne beherrscht meisterlich die Kunst der Symptombehandlung. Als die Natur dem Menschen der Industriekultur bis dahin unbekannte „Zivilisationskrankheiten“ als Protest- und Rachesignale bescherte, dachte niemand ernsthaft daran, den „unvermeidlichen“ zivilisatorischen Stress abzubauen. Man fand das Diazepam für die strapazierte Seele und das Hydrocortison für den überempfindlich reagierenden Körper. Täglich entdeckt man neue „Antagonisten“, um das wankende Gleichgewicht des Menschen zu stabilisieren. Ein paar Milligramm eines Antagonisten genügen, um dem rebellierenden Körper vorzugaukeln, es sei alles in bester Ordnung.

Die Naturwissenschaft hat Diazepam und Hydrocortison gefunden; sie wird auch den Stoff finden, der den derzeitig aktuellen Vergeltungsangriff der Natur auf das Immunsystem des Menschen zurückschlagen wird. Sie wird Krebs und Aids besiegen. Das „künstliche Immunsystem“ ist wie künstliches Herz und künstliche Niere nur eine Frage der Zeit. Und auch das Ersatzteillager für kaputte Organe wird zunehmend komplettiert.

Die Zivilisationskrankheiten haben sich zu einer hochkarätigen Marktlücke entwickelt. Es ist ähnlich wie mit dem Auto. Da nun einmal jeder zehnte, fünfte oder zweite (?) vom Auto und von der Krankheit lebt, sind Zweifel nicht mehr erlaubt. Warum sollte man anstelle der umsatzträchtigen Symptombehandlung miesepetrige Ursachenforschung betreiben, die das Konzept in Frage stellt und obendrein das Geschäft verdirbt? Und außerdem, es macht mehr Spaß, die Natur zu überlisten, als ihr nachzugeben.

Die Ressourcen der Erde sind noch nicht erschöpft, die Grenzen der Belastbarkeit noch nicht erreicht. Bevor der Mensch an seinem Giftmüll krepiert, wird er gefräßige Bakterien züchten, die sich an Plastik und Altöl laben; die sich von Dioxin und Schwermetallsalzen bestens ernähren. Das ist keine Utopie. Wer hätte noch vor Jahren daran gedacht, dass man diese potentiell gefährlichen Kleinstlebewesen zu „nützlichen Idioten“ umfunktionieren kann?

Was die Erde an Giftmüll und radioaktiven Abfällen nicht mehr aufnehmen kann, wird eine kosmonautische Müllabfuhr ins Weltall befördern. Endlich steht ein Meer der Unendlichkeit zur Verfügung, das gewiss nie „umkippen“ kann. Der Weltraum als Mülldeponie mit unendlicher Kapazität – eine der verlockendsten Aussichten der Weltraumfahrt!

Auch auf der Erde gibt es viel zu tun. Eine fortgeschrittene Gentechnologie wird es ermöglichen, die antiquierten Naturpflanzen, die den Belastungen der Moderne nicht gewachsen sind, gegen neu gezüchtete Kulturpflanzen auszutauschen. Diese neuen zivilisationsadaptierten Nutzpflanzen werden gegen Gifte resistent sein. Sie werden den sauren Regen als kostbaren Dünger verwerten. Radioaktive Strahlung fördert ihr Wachstum, und in der Schwerelosigkeit des Alls tragen sie besonders üppige Früchte.

Ähnliches gilt für den Menschen. Es müsste doch möglich sein, ihn mittels kleiner Eingriffe am Genmaterial an die Welt von morgen anzupassen. Dann bräuchte er sich nicht mehr über Schadstoffwerte in Luft und Wasser und über angeblich lebensbedrohende Veränderungen in der Atmosphäre den Kopf zu zerbrechen. Auch alle Rudimente aus der Vergangenheit, die ihn vorläufig noch am perfekten Funktionieren hindern, dürften gentechnisch zu beseitigen sein.

Und gelänge es gar, eine Mutante Mensch zu züchten, die auf Schwerelosigkeit programmiert ist, dann hätte sich der Homo terrestris endlich in den Homo cosmonauticus universalis verwandelt und könnte die unendliche Himmelfahrt zu den anderen Göttern des Kosmos antreten, von der er schon immer träumt.

 

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